„Kannten sie die Menschen über die sie schrieben?"

DIE TAUBE AUF DEM DACH

"Januar 1973, die DDR-Filmzeitschrift „Filmspiegel“ interviewt die junge Regisseurin Iris Gusner und fragt: „Kannten sie die Menschen über die sie schrieben?“
 Selbstbewusst antwortet Iris Gusner: „Selbstverständlich kannte ich sie, wie wollte ich sonst über Menschen etwas Konkretes erzählen? Wichtig erscheint mir dabei, solche Probleme darzustellen, die den Zuschauer interessieren, mit denen er täglich selbst konfrontiert wird. 
Was ich will, ist die Aussprache, der Dialog mit dem Zuschauer. Natürlich ist jede künstlerische Äußerung zugleich auch Selbstauseinandersetzung. Nur mache ich den Film nicht allein deswegen, um mit mir ins Reine zu kommen. Das steckt mit drin; man kann das eine nicht vom anderen trennen.“
Dieser Spendenaufruf, abends auf der Feier des Kollektivs kommt nicht gut an. Denn eigentlich ist man doch schon solidarisch, jeden Monat zahlt man einen Solidaritätsbeitrag und unterstützt damit die Menschen in den Bruderstaaten.

"Im Januar 73 durften wir noch am Film arbeiten." | (c) Bild: DEFA-Stiftung

Und das ausgerechnet der ungestüme Strubbelkopf Daniel diesen Aufruf startet, haben einige der Anwesenden überhaupt nicht gern. Daniel ist Student. Über den Sommer hat er eine Beschäftigung auf einer Baustelle angenommen. Doch anstatt Sand zu schippen, will er lieber gleich Kran fahren. Seine Bauleiterin, die eloquente Linde Hinrichs stutzt ihm jedoch die Hörner und schickt ihn zurück zur Schaufel. Das macht Eindruck auf Daniel. Aber auch Linda ist vom ungestümen Idealismus Daniels angezogen.

DIE TAUBE AUF DEM DACH – heißt dieser Film. Es ist das Kinodebüt der Regisseurin Iris Gusner. Als sie im Januar 73 dem „Filmspiegel“ ihr Interview gibt, ahnt sie noch nicht, was ihr und dem Film blüht. Keine fünf Monate später ist der Film verboten und wird der nur halb fertig geschnittene Streifen in die Keller des DEFA-Studios für Spielfilme verbannt. Zwar kann Iris Gusner ihren Film für "Unterrichtszwecke" immer mal wieder hervorholen und Kollegen vorführen. Doch das Kinopublikum der DDR bekommt DIE TAUBE AUF DEM DACH bis zur Wende nicht zu Gesicht. IM Frühjahr 73 hatte die DDR-Staatsführung unter dem frisch ins Amt gehobenen Erich Honnecker, die lange Leine, an der die Staatskultur hing, wieder straff angezogen und damit auch Iris Gusners Film faktisch verboten.

Guenter Naumann & Heidemarie Wenzel in DIE TAUBE AUF DEM DACH | (c) Bild: DEFA-Stiftung

Welch ein Verlust das für das Kino der DDR war, kann man jetzt, 35 Jahre später anschauen. Die DEFA-Stiftung hat den Film, der nach der Wende lange Zeit als verschollen galt, aufgespürt und jene letzte Arbeitskopie restauriert, die nun in den Kinos zu sehen ist.

Im Kern geht es um eine Dreiecksgeschichte. Um die starke Linda, die als Bauleiterin ein Projekt mit Plattenbauwohnungen zu verantworten hat. Um den unsteten Brigadier Hans und den jungen quirligen Studenten Daniel. Linda ist einigermaßen hin und hergerissen zwischen diesen so unterschiedlichen Typen von Mann, zwischen Arbeiter und Student.

Doch es geht in diesem Film um mehr. Es geht um die tatsächliche Entscheidungsfreiheit des Individuums inhb. der angeblich realitätsgewordenen Utopie namens DDR. Gibt es das wirklich, ein modernes, selbstbestimmtes Frauenbild? Welchen Preis hat es eigentlich, im besten Sinne Arbeiter zu sein und sich selbstlos für die Sache aufzubringen? Und wie weit reicht die Zukunft?

Zentrale Fragen die Iris Gusner in ihrem Film verhandelt. Ein Film getragen von hervorragenden Darstellern.  Und überraschend in seiner Inszenierung, die einen genauen, ja beinahe sezierenden Blick auf die Realitäten der damaligen Zeit warf.

Heidemarie Wenzel & Andreas Gripp in DIE TAUBE AUF DEM DACH | (c) Bild: DEFA-Stiftung

Ein Film, der auch optisch besticht, in seiner klugen, unsentimentalen Kameraführung und seinen Settings. Ursprünglich in Farbe gedreht, ist vom Film nur noch ein Schwarz-Weiß-Negativ übrig geblieben. Doch gerade diese unfreiwillige Entfärbung erscheint seltsam passend. Denn dadurch gewinnt der Film mehr als nur eine Aura des Kafkaesken. Er wird zeitlos und visionär als Werk.

Die Story von die TAUBE AUF DEM DACH wirkt heute surreal, wie eine verlorene Fantasie. Und ist doch in vielem immer noch eine schmerzhaft aktuelle Utopie.


DIE TAUBE AUF DEM DACH
DDR 1972/73
Regie: Iris Gusner
Kamera: Roland Gräf
Musik: Gerhard Rosenfeld