Im Transit des Wartens

ORLY


ORLY beginnt mit einer Frau, die allein durch eine Stadt geht, sie wirkt grimmig und verletzlich zugleich. Es folgt eine Abschiedsszene, bei der einer der Beteiligten bereits gegangen ist. Theo, ein Mann, um die 50 ist verlassen worden. Zerknirscht sitzt er zu Hause auf seiner dunklen Ledercouch, wirkt etwas mitgenommen. Er ruft jemanden an, eine Frau. Sie ist nicht begeistert von seinem Anruf, will das Er sie in Ruhe lässt. Er versucht am Telefon in Alltägliches zu flüchten, sie legt irgendwann entnervt auf. Ortswechsel: Ein Flughafen, in Paris, genauer Flughafen Paris Orly. Wir beobachten verschiedene Leute, wie sie den Flughafen betreten, sich ihr Ticket holen, warten. Auf einer kleinen Sitzbank kommen ein Mann und eine Frau ins Gespräch.

Ins Gespräch kommen: „Wo fliegen sie hin?“, „Wo kommen sie her?“, „Weswegen waren sie hier?“ – Dialoge zwischen Menschen, die sich nicht kennen, sich nur mit Vornamen einander vorstellen und mit dem, was sie bei sich tragen. Taschen, Koffer, Mäntel. Eigentlich bleibt es dann oberflächlich. Doch das erste Paar, dem wir zusehen, kommt ins Schwatzen. Aus der Unkenntnis des Anderen wird eine vage Ahnung vom Gegenüber, nur anhand von dessen Erzählungen. Das gilt hierbei für Protagonisten und Kinopublikum gleichermaßen.


ORLY - geschrieben und gedreht von der deutschen Regisseurin Angela Schanelec. Ihr Film besteht aus verschiedenen solcher Zusammenkünfte im Wartebereich des Flughafens. Mal sind es zwei Menschen, die sich noch nie getroffen haben, mal sind es Mutter und Sohn und dann wieder ein junges deutsches Paar. Nach und nach lernen wir sie kennen, machen uns ein Bild anhand dessen, was sie einander erzählen, was sie tun, was der Film uns gibt. Und mit ihnen erkunden wir den Flughafen, zeichnen allmählich eine Karte im Kopf, geben den Orten Namen: Eingangshalle, Duty-Free, das Café. Doch das ist vielleicht nur auf den ersten Blick relevant. Viel interessanter ist das, was der Prozess des Wartens in einer absolut anonymen Umgebung aus den Figuren und im übertragenen Sinne auch aus uns macht.

Im Transit des Wartens verändern wir uns auf seltsame Weise. Wir sind unserer gewohnten Umgebung entrissen, auf uns selbst zurück geworfen. Unser Ziel ist eine unklare Chiffre, der Ort, den wir verlassen haben, klingt aber noch nach. Das ist Freiheit von uns selbst für einen vorübergehenden Augenblick. Das eröffnet neue Perspektiven, neue Möglichkeiten. Und so spricht der Sohn irgendwann aus, was er seiner Mutter wohl schon lange sagen wollte. So sehen wir auch den jungen Deutschen, der seine Freundin für eine kleine Erkundungstour verlassen hat und im Duty-Free-Shop auf die Frau der Eröffnungsszene stößt. Sie, zwei sich völlig Unbekannte, tauschen Blicke. Blicke, die Hoffnung auf etwas machen, dass wohl nie Realität werden wird. Dass aber gerade hier, im Transit, absolut möglich scheint.


Die Kamera versetzt uns in die Perspektive des Beobachters. Auf mittlere Distanz und mit langer Brennweite wurde ORLY gedreht, ohne dabei den alltäglichen Betrieb im Flughafen zu unterbrechen oder zu manipulieren. Die Schauspieler sitzen wie ganz gewöhnliche Passagiere im Flughafen, werden von der Umgebung assimiliert. Lange Einstellungen mit wenigen Schnitten, ein ruhiger, geradezu zärtlicher Film. Der voller Lebendigkeit steckt, der uns im Kopf abholt und uns am Schluss Gedanken-versunken zurück lässt.


Wer das Label braucht, der soll Angela Schanelecs ORLY ruhig als Film der sog. „Berliner Schule“ titulieren. Denn ORLY zur „Berliner Schule“ zu zählen ehrt dieses Label, das vom deutschen Bombast-Kino so gehasst wird. Aber eigentlich ist das vollkommen egal. ORLY steht für sich selbst. ORLY ist ein großartiger Film.


ORLY
Deutschland/Frankreich 2010
83 Minuten
Regie & Buch: Angela Schanelec
Kamera: Reinhold Vorschneider
Musik: Cat Power ("Remember Me")
Schnitt: Mathilde Bonnefoy
Darsteller: Bruno Todeschini, Natacha Régnier, Mireille Perrier, Maren Eggert, Emile Berling, Josse de Pauw, Jirka Zett, Lina Falkner

(c) Bilder: Piffl Medien Filmverleih