Menschsein

LA DANSE



Parlamente, Nervenkliniken, Schulen, Gerichte, Klöster, Kasernen, Opernhäuser – Frederick Wisemans Kamera war beinahe überall. Hat die Menschen und die Räume in denen sie sich bewegen beobachtet, erforscht, durchdrungen. Frederick Wisemans Dokumentationen tun ihrem Wortsinn nach genau das: Sie dokumentieren - was die Kamera sieht. Aufs Wesentliche reduziert. Es gibt keinerlei Off-Kommentar, keine Information, ebenso verzichtet Wiseman auf Manipulationen. Das Bild steht im Mittelpunkt bzw. das, was dieses Bild zeigt. Im Fall von Frederick Wisemans Debüt vor 40 Jahren, dem Film TITICUT FOLLIES, kam dies mehrfach einem Tabubruch gleich. Sein Stil war irritierend. Die Bilder vom Umgang mit Insassen eines Gefängnis für psychisch Kranke schockierten.

Diese Tabubrüche sind nicht unbedingt Wisemans Absicht im herkömmlichen Sinn. Er ist eher ein neugieriger, aber präziser Beobachter. Was ihn interessiert, ist der Mensch und sein Verhalten, seine Interaktion mit anderen und seiner konkreten Umwelt. 2006 kam sein Werk STATE LEGISLATURE in die Kinos. 217 Minuten lang verfolgt er den Alltag des Teilzeitparlaments von Idaho: Er beobachtet Debatten und Ausschussitzungen. Schaut dem Personal des Parlaments zu, folgt einigen Abgeordneten. Wie funktioniert ein Parlament? Was ist das: "Parlament"? STATE LEGISLATURE gibt hier mehr als nur eine Ahnung.

Die Ballettkompanie der Pariser Oper | (c) Bild: Kool Filmdistribution

Für LA DANSE drehte Wiseman 2009 über zwei Monate im Ballett der Pariser Oper. Der Film schaut 158 Minuten lang dem täglichen Arbeiten an den Stücken zu, den Proben, den Besprechungen. Verschieden Choreografen lernen wir kennen, ebenso ihre Tänzer. Immer wieder taucht Wisemans Kamera dabei in die einzelnen Proben ein, bleibt minutenlang daran hängen. Ballett ist Knochenarbeit für alle Beteiligten. Das sieht man auf den ersten Blick. Aber Wisemans Bilder gehen tiefer: Ballett ist Selbstaufgabe und Hingabe im selben Moment. Menschen treiben sich und ihren Körper bis zur absoluten Grenze der Belastbarkeit, mit dem Ziel eines flüchtigen Augenblicks von Schönheit und Perfektion.

Ballett ist Arbeit im proletarischen Sinn. Die Pariser Oper und ihre Ballettkompanie sind ein Kulturbetrieb wie viele andere auch. Wiseman nimmt Platz am Besprechungstisch der Direktorin, lauscht den Unterredungen: Eine Tänzerin bittet um Entlastung von einer Überzahl an Stücken, ein Choreograf wird in seinen Vorstellungen zurechtgestutzt. Dieser Betrieb muss sich finanzieren, Kultur wird zu Ware. Die harte körperliche Arbeit eine Etage höher, wird für ViP-Sponsoren in attraktive Erlebnispakete verpackt. Kantine, Schneiderei, Bühne. Durchlaufproben, Kostümproben. Immer wieder bricht Wisemans Kamera auf wunderbare Weise aus. Sucht scheinbar Zuflucht vor der Manie, mit der in diesem Kulturbetrieb das Handwerk praktiziert wird. Stellt sich aufs Dach des "Palais Garnier", wendet den Blick zur Stadt hin, für deren Bewohner die Menschen eine Etage tiefer selbstvergessen arbeiten. So entstehen Kleinode der Beobachtung, flüchtige Momente, mindestens genauso schön wie die sorgsam montierten Sequenzen von Aufführungen.

Myriam Ould-Braham und Jeremie Belingard in "Genus" von Wayne McGregor | (c) Bild: Kool Filmdistribution

Wer mit Namen wie Mats Ek oder Sasha Waltz nichts anfangen kann, für den Nicola De Riche oder Marie-Agnes Gillot Unbekannte sind, der wird sich in dieser Dokumentation trotzdem zurechtfinden. Wisemans Film bringt sie näher, und ihren unermüdlichen, manchmal zermürbenden Kampf um Perfektion.

Darum "geht es" in LA DANSE, um den Kampf für Perfektion. Frederick Wiseman kriecht dabei förmlich hinein in die Hingabe der Menschen, verweilt, lässt sich Zeit. Ein großartiges Werk über das Menschsein.


LA DANSE - LE BALLET DE L'OPÉRA DE PARIS
Frankreich/USA2009
Dokumentarfilm
158 Minuten
Regie & Buch: Frederick Wiseman
Kamera: John Davey
Schnitt: Frederick Wiseman, Valérie Pico

(c) Bildmaterial: Kool Filmdistribution