Durchkomponierte Wuchtigkeit

I AM LOVE


Oberflächen, Kulissen, Räume, Lebensorte – für das Kino sind sie essenziell. Aber der Grad zwischen Oberfläche als elementarem Teil eines Films und simpler Dekoration ist schmal und viel zu viele Filmemacher verstricken sich im illustrativ Dekorativen, versäumen es, die Oberflächen mit etwas zu unterfüttern, das ihrem Film eine eigene Lebendigkeit gibt.

I AM LOVE, des italienischen Regisseurs LUCA GUADAGNINO, gelingt dies scheinbar mühelos. Der Film, der das Ergebnis einer 11-jährigen Zusammenarbeit mit seiner Hauptdarstellerin Tilda Swinton ist, atmet Oberflächen förmlich, ergeht sich regelrecht darin, hat trotz oder gerade wegen 2D eine auffällige Haptik. Die Einstiegssequenz verfolgt ein Abendessen in einer herrschaftlichen Villa in Mailand. Wir erleben die Vorbereitungen des Personals, penibel wird Essen gekocht, die Tischordnung abgestimmt, der Tisch hergerichtet. Die Familie sammelt sich allmählich, wertet den Tag aus, liest die lachsfarbene Tagespresse; das Familienoberhaupt, die Großeltern kommen an, schwatzen kurz mit dem Personal, legen ihre edlen Pelzmäntel in dessen Arme. Während die Herrin des Hauses, Emma ihr Name, im Ankleidezimmer in ein Abendkleid schlüpft und sich dabei von ihrem Ehemann helfen lässt.


Die Kamera ist stets präsent, verfolgt das Treiben in stiller Teilnahme, wagt hier und da eine ausgedehnte Kamerafahrt oder beobachtet genau - aber auf Abstand. Ausgesuchte, durchgeplante Bilder sind es, arrangiert und ganz auf die Herrschaftlichkeit des Hauses ausgerichtet, in der die Geschichte spielt. Die noble Stadtvilla der Familie Recchi, einem angesehenen Clan von Textil-Produzenten in Mailand wird dabei von Schnee umweht. Das Intro des Films zelebriert vorher dieses Bild einer monoton-grauen, eingeschneiten Stadt, fängt sie in Panoramaaufnahmen ein, nur abgelöst von geradezu herrschaftlichen Totalen. Phasenweise wirken die Farben wie in Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Diese Bilder, hochgestochen und durchkomponiert, porträtieren detailversessen das edle, herrschaftliche Leben der Familie. Geradezu körperlich spürbar ist die Hybris der Recchis; satt, fleischig, üppig scheint ihre Welt.

Die Welt - das ist auch das Drama der Emma Recchi. Sie ist eine selbstbewusste Frau, hält ihre Familie aus drei wunderschönen, erwachsenen Kindern zusammen. Die Geschichte legt jedoch allmählich Risse im Familiengefüge frei, als der Großvater sein Lebenswerk an seinen Sohn und seine Enkel übergibt. Kaum ist der Großvater tot, sind die Söhne und ihr Mann Tancredi Recchi aus dem Haus, von London ist oft zu hören und vom Verkauf der Firma. Einsamkeit breitet sich um Emma herum aus, eine Einsamkeit, die ihren bisherigen Lebensentwurf infrage stellt.


Zufällig fällt ihr ein Indiz in die Hände, dass ihre Tochter wohl lesbisch sein könnte. Aber das nimmt Emma nur am Rande wahr. Einer ihrer Söhne, Eduardo schleppt einen Freund an, Antonio, ein begnadeter junger Koch. Der Film inszeniert die erste Begegnung von Emma und Antonio beiläufig, für Emma ist er nur ein Freund Antonios. Zunächst eher unmerklich entspinnt sich aus dieser Begegnung eine Affäre. Ausgerechnet ein Mittagessen mit einer Garnele, zubereitet von Antonio, wird für Emma zu einer Art Erweckungserlebnis. Es versteht sich von selbst, dass in I AM LOVE auch das Essen zelebriert wird und Teil des Ganzen ist.


Die Affäre zwischen Emma und dem Koch wird sich selbstverständlich entwickeln, und sich zu einem dramatischen Finale zuspitzen, welches über die angeknacksten Familienverhältnisse wie eine Apokalypse hereinbricht. Immer im Zentrum steht dabei Emma, die absolut Leinwand füllend von Tilda Swinton gespielt wird. I AM LOVE – ein durchkomponiertes, wuchtiges Drama, ein wortwörtliches Epos. Das ist gewöhnungsbedürftig – aber auf seine Weise auch ein Ereignis.


I AM LOVE
Italien 2009
119 Minuten
Regie: Luca Guadagnino
Buch: Luca Guadagnino, Barbara Alberti, Ivan Cotroneo, Walter Fasano
Kamera: Yorick Le Saux
Musik: John Adams
Schnitt: Walter Fasano
Darsteller: Tilda Swinton, Flavio Parenti, Edoardo Gabbriellini, Alba Rohrwacher, Pippo Delbono, Maria Paiato, Diane Fleri, Waris Ahluwalia, Gabriele Ferzetti, Marisa Berenson

(c) Bilder: MFA+ Filmverleih 2010