Am Rand aller Ränder

BOMBAY BEACH
Berlinale 2011 - Panorama


"Bombay Beach" – so heißt eine kleine Siedlung im südlichen Kalifornien. An den Ufern des Saltonsees gelegen, besteht dieser Ort aus einer Aneinanderreihung von heruntergekommenen Häusern und Wohnwagen. Der Saltonsee verdankt seine Existenz einem Dammbruch vor gut 100 Jahren; lange Zeit war er ein wirtschaftlich aufstrebendes und beliebtes Ausflugsziel. Inzwischen ist der See längst umgekippt und versalzen, da ihm jeder Zufluss fehlt. Früher ein Touristenmagnet, heute ein Fischfriedhof. Rund 100 Menschen leben heute noch in der kleinen Ortschaft "Bombay Beach".

Unter ihnen der sechsjährige und manisch-depressive Junge Benny. Mit seinen waffenvernarrten Eltern und seinen drei Geschwistern lebt er aus entfernter Sicht im Elend. Die Waffenliebe von Bennys Eltern rief bereits Polizei und Jugendfürsorge auf den Plan und brachte die beiden Erwachsenen ins Gefängnis. Doch was auf den ersten Blick den Anschein einer völlig verwahrlosten Sippschaft macht, entpuppt sich als eine durchaus liebevolle und zumindest menschlich reiche kleine Familie.



Die Eltern sind sichtlich bemüht, ihr persönliches und gescheitertes Schicksal nicht an die Kinder weiterzugeben. Dabei sticht die Fürsorge, die die Mutter für ihren jüngste Sohn Benny aufbringt, besonders heraus. Von den Ärzten wurde der aufbrausende und hyperaktive Grundschüler auf Retalin und andere starke Psychopharmaka gesetzt. Regisseurin Alma Har’el begleitet Mutter und Sohn zu den Ärzten und bei Spaziergängen. Sie entdeckt eine Frau, die zunehmend skeptisch und sorgenvoll auf ihren zugedröhnten Sohn blickt.

Zwei weitere Charaktere stechen hervor: Der schwarze Jugendliche CeeJay, der aus Los Angeles in das Nirgendwo von "Bombay Beach" geflohen ist, nachdem sein jüngerer Cousin einer Schießerei unter rivalisierenden Banden zum Opfer viel. Und der alte, knorrige Rentner Red, der immer einen geladenen Revolver im Wohnwagen liegen hat. Einstmals Ölarbeiter und verheiratet, schlägt er sich heute allein mit kleinen Zigarettenverkäufen und einer Flasche Schnaps durch den Tag. Alma Har’el pendelt in ihrem Film zwischen den Leben dieser sehr unterschiedlichen Menschen. Bennys Alltag mit Pillen und seinen Tagträumen davon, einmal Feuerwehrmann zu werden. Red, der mit einem Beachbuggy durch die nahe Wüste braust, bis ihn ein Schlaganfall ereilt. Und CeeJay, der von einer Karriere als Football-Spieler träumt, und dafür wie ein Wahnsinniger trainiert.



Das Beeindruckende an BOMBAY BEACH ist die erhebliche menschliche Wärme, die Alma Har’el in ihrem Film ausfindig macht. Trotz der verarmten, bisweilen tragischen Zustände und des rauen Umgangstons, ist dieses kleine Nest offenbar eng zusammengeschweißt. BOMBAY BEACH findet dort, wo die allgemeinen Klischees Verwahrlosung und Abschaum sehen wollen, vor allem eines: Menschlichkeit. Dass dies sosehr auffällt, ist vielleicht weniger das "Verdienst" des Films. Sondern, eher "Schuld" des Zuschauers und seiner Erwartungshaltungen. Die Doku versucht der vermeintlichen Endgültigkeit der Aussichtslosigkeit eine andere Sicht entgegen zustellen und seinen Protagonisten ein Stück weit ihre Selbstbestimmung und schlussendlich Würde zurück zugeben.

Immer wieder bricht Alma Har’el in ihrem Werk das Dokumentarische auf, greift narrativ ein, schafft Möglichkeiten in der Hoffnungslosigkeit. So inszeniert sie bspw. für die Bewohner kleine Tanzsequenzen, die diese dankbar aufgreifen und mit Leben erfüllen. Das leicht diffus gefilterte und weich gezeichnete Bild, dessen ausdrücklich schöne Optik sehr stark an die Musikvideoästhetik angelehnt ist, sorgt hier auch formal für eine zusätzliche Herauslösung aus dem dokumentarischen Kontext. BOMBAY BEACH wächst zu einer transzendierenden, fast surrealen Traumlandschaft. Der gezielte Einsatz von Songs von Bob Dylan und der Band Beirut tut sein Übriges dazu. Selten ist der Umstieg vom Musikvideo auf die lange filmische Form so sehr geglückt, wie bei der Filmemacherin Alma Har’el.


Diese Dokumentation entpuppt sich als frappierend großartiges, bildstarkes Porträt über Menschen am wortwörtlichen Rand aller gesellschaftlichen Ränder westlicher Gesellschaften. Teheran ist weit weg, aber Orte, ähnlich wie "Bombay Beach", finden sich in allen westlichen Industriestaaten unzählige. Und mitten in einem Filmfestival von 385 Filmen, findet sich mit Alma Har’els BOMBAY BEACH plötzlich ein filmisches Juwel, dessen Strahlkraft und Nachhaltigkeit einen Großteil der Berlinale in diesem und der letzten Jahre völlig vergessen macht.



BOMBAY BEACH
USA 2011
Dokumentation
80 Minuten
HDCAM, Farbe
Regie, Buch, Kamera: Alma Har'el
Zusatzkamera: Matthias Koenigswieser
Koreographien: Paula Present
Schnitt: Joe Lindquist & Alma Har'el
Score: Zach Condon
Musik: Beirut, Bob Dylan
Produktion: Alma Har'el, Boaz Yakin, Rafael Marmor

(c) Bildmaterial: Bombay Beach Film