Zurückeroberung der Widersprüche

VATERLANDSVERRÄTER

Es beginnt mitten im Sommer in einem Ruderboot auf einem See: Der Schriftsteller Paul Gratzik hält die Ruder in der Hand. Ihm gegenüber, mit der Kamera in der Hand, sitzt die Filmemacherin Annekatrin Hendel. Gratzik wirkt gereizt, offenbar hat Händel eine Frage gestellt, die ihm nicht passt: „Ich geh über Bord“. Es hat den Anschein, dass die Regisseurin hier vorsichtig insistierend versucht, über ein vereinbartes Themenspektrum hinauszukommen. Sie fragt nach Gratziks Arbeit für die DDR-Staatssicherheit und ob er über ihm nahestehende Menschen berichtete. Gratzik kontert ihren Versuch: "Ich hör diese scheiß westdeutschen Filmfragen genau raus!" - „Ich habe keine Moral – jedenfalls nicht eure!“ In diesem Moment wird deutlich spürbar, dass hier ein Protagonist im Boot sitzt, der damals ganz klar aus Überzeugung handelte. Und der auch heute noch viel von jener Haltung in sich hat, die ihn damals trug.


Es ist eine irritierende Aufnahme: Da rudern zwei Generationen von Deutschen mitten im Sommer über einen dieser traumhaft idyllischen Seen Brandenburgs und streiten über fundamentale Fragen deutsch-deutscher Geschichte. Eine Geschichte, die nach der Wende vor allem eine Geschichtsschreibung des sog. „Westen“, siegreich und überlegen, über den sog. „Osten“ war. Die allmählich, gerade durch den dokumentarischen Kinofilm (vgl. Thomas Heise - MATERIAL), eine Form von Zurückeroberung erfährt, zumindest einen Ausgleich der Sichtweisen. Annekatrin Hendel und ihr Film VATERLANDSVERRÄTER fügen sich hier ein und tragen mit dem Porträt über den Schriftsteller Paul Gratzik einen wichtigen Aspekt bei. Der per se aufbrausende Paul Gratzik kriegt sich auf diesem Boot wieder ein, die Situation eskaliert nicht. Vielmehr geht er auf ihr Insistieren ein. Sie fragt nach Moral, er antwortet mit seiner eigenen Interpretation und einem geflügelten Wort seiner Mutter, dessen Aktualität nicht nur in diesem Zusammenhang bestechend ist: „Der größte Feind im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant.“


Die Widersprüchlichkeit Paul Gratziks ist der Kern von VATERLANDSVERRÄTER. Annekatrin Hendel gelingt es auf bewundernswerte Weise, die einzelnen Schichten des Charakters aufzuschlüsseln: Der junge, auftrumpfende Kerl, der Gigolo einer alternden Schauspielerin war und heute, selbst alter Mann, stolz auf seinen schönen Enkel ist. Der hemdsärmelig intellektuelle Schriftsteller, der mit der Arbeiterschaft verwoben war, sie dabei auch in ihrer Janusköpfigkeit erkannte und wortgewaltig beschrieb. Und der inoffizielle Mitarbeiter, der fast zwanzig Jahre Berichte lieferte. Auch hier arbeitet die Regisseurin auf kluge Weise heraus, dass Gratzik bei diesem Aspekt vor allem er selbst blieb. Für ihn beging der DDR-Staatsapparat Verrat am eigenen Volk, dies wollte er nicht mehr unterstützen. Er quittierte 1981 öffentlich den Dienst.


Dem Ruderboot im Sommer folgt viel Winter. Paul Gratzik lebt auf einem spartanischen Gehöft in der Uckermark. Und über weite Teile der Dreharbeiten herrschte offensichtlich strenge Kälte. Ein kleiner Brennofen neben dem Bett und selbst gebranntes im Keller sind, neben der Kamera, stille Zeugen eines alternden Lebens, das trotz aller Gebrechlichkeit immer noch von rastloser Energie durchflutet zu sein scheint. Die schiere Präsenz Gratziks dominiert über weite Strecken die Leinwand. Annekatrin Hendel fängt ihren Film hierbei jedoch immer wieder ab, bevor aus dem Porträt eine Show wird. Weggefährten kommen ins Bild: Die Opernsängerin und frühere Geliebte Renate Biskup, der Dramaturg Ernstgeorg Hering, die Schauspielerin Ursular Karusseit, der Stasi-Offizier Günter Wenzel. Sie geben ihre eigenen Erinnerungen über ihn wieder. Und erst aus diesen kritischen Spiegeln entsteht ein vollständigeres Bild. VATERLANDSVERRÄTER ist in jenen wertvollen Momenten aber vor allem Resonanzboden für die Reflexionen der anderen Protagonisten. Sie stehen mit ihren Biografien für sich allein, sind damit weitere Mosaiksteine in einem vermutlich niemals ganz vollständigen Bild der DDR.


Bilder setzt Annekatrin Hendel offensiv ein. Sie inszeniert Gratziks selbstisolatorische Existenz als alternder Schriftsteller in aufgeladenen Bildern. Und für jene Momente, von denen nur Erzählungen verfügbar sind, kommen Leinwand füllende Illustrationen zum Einsatz. Narrativ grenzwertig sind Sequenzen, in denen sich Gratzik einer Augen-OP unterzieht. In diesen Momenten wirkt VATERLANDSVERRÄTER ohne Not unsouverän. Denn eigentlich ist dies ein fantastisches Werk über Menschen, die nur nicht nur Zeugen einer einzigartigen Epoche waren.

VATERLANDSVERRÄTER
Deutschland 2011
Dokumentarfilm
97 Minuten
Format: 35 mm, 1:1.78, Farbe
Regie, Buch: Annekatrin Hendel
Kamera: Johann Feindt, Jule Katinka Cramer, Martin Langner, Can Elbasi
Standfotografie: Beate Nelken
Musik: Louis Rastig
Schnitt: Jörg Hauschild
Grafik: Leif Heanzo
Produktion: Holly Tischman, Maria Wischnewski; IT WORKS! Medien, ARTE/ZDF
Protagonisten: Paul Gratzik, Matthias Hering, Ernstgeorg Hering, Ursula Karusseit, Raphaela Schröder, Günter Wenzel, Renate Biskup, Antje Mauksch, Gabriele Dietze, Sascha Anderson, Philipp Etzel
Festival: Berlinale 2011 - Perspektive Deutsches Kino
Verleih: Edition Salzgeber

© Bilder 1 & 2: Beate Nelken
© Bilder 3 & 4: Edition Salzgeber