THE ADVANTAGE OF BEEING A WOMAN

CONCUSSION
Berlinale 2013_Panorama

"I don't want to clean-up two houses!" - faucht Abby ihren jungen Kompagnon Justin irgendwann im Film an. Abby, Anfang 40, lesbisch-verheiratet, Mutter zweier Kinder, Hausfrau. Sie und Justin bringen ein heruntergekommenes Loft auf Vordermann. Abby hat die Räume gekauft, um wieder etwas zu arbeiten. Justin lässt achtlos leere Pizza-Kartons liegen und raucht auf der Baustelle. Das kann Abby, die eine Art perfekte Haufrau abgibt, überhaupt nicht leiden. Zurück zum Anfang: Der Film beginnt mit einem akustischen Rauschen. Wortfetzen, Gespräche über Fitness, Familie, Frauenprobleme. Das Bild öffnet sich, wir sehen lauter Frauen jenseits der Mitte 30 auf Steppern und Laufbändern bei ihrem Work-Out. CONCUSSION.

CONCUSSION | (c) David Kruta

Concussion, meint übersetzt eine Erschütterung bzw. Gehirnerschütterung. Die findet in diesem Film wortwörtlich statt, wenn Abby gleich zu Beginn von ihrem jungen Sohn ein Baseball an den Schädel geworfen wird. Stark blutend und wutentbrannt fluchend wird sie von ihrer Frau und den Kindern ins Krankenhaus gebracht: "I dont want this!" Die langjährige Ehe zwischen Abby und ihrer Frau Kate ist irgendwie in der Alltagsroutine ertrunken: Kate arbeitet als Anwältin, Abby kümmert sich um das Haus und die Kinder im Grundschulalter. Oder sie geht zum Fitnesstraining. Abends sitzt man bei Tisch, isst Bio-Abendessen und die Kinder fragen höflich, bevor sie den Tisch nach dem Essen wieder verlassen dürfen. Wohlsituiert ist das hier alles. Das Haus, das Auto, die Kinder, die Nachbarschaft. Wirkliche Probleme bereitet allenfalls eine aufgeschreckte Schullehrerin, die aus Angst vor dem Verklagtwerden, lieber erst fragt, ob die Familie denn auch solche Dinge wie Halloween feiert. Ja, tut sie.


CONCUSSION | (c) David Kruta

Selbstbewusste, durchstrukturierte, reflektierte lesbische Frauen zeigt uns Regisseurin Stacie Passon in ihrem Film. Die Regisseurin lässt dabei schnell durchblicken, dass diese Strukturiertheit und Selbstorganisation der Lebensentwürfe, die hier irgendwie auch Kopien der heteronormativen Nachbarschaft darstellen, eine beinahe unumgängliche Falle bereithalten: Langeweile. Wenn das Paar mit Freunden zusammensitzt, meistens andere Hetero-Paare, dann drehen sich die Geschichten schnell um das Früher. Um die eigene Jugend, die wilde Zeit. Heute haben die Kinder Probleme in der Schule, ist der Wäscheberg riesig, sind die Fliesen im Bad hässlich und das eheliche Sexualleben unspannend bis nicht mehr vorhanden. Abby will das eigentlich nicht mehr. Wo in anderen Filmen andere Figuren alles hinschmeißen und auf Selbstfindungsreise gehen, belässt Abby zunächst den Status-quo. Sie hat eine andere Idee.

CONCUSSION | (c) David Kruta

CONCUSSION ist ein außergewöhnlicher Film. Gewisse Dinge werden hier einfach als gegeben angenommen: Coming-out ist keine Frage mehr, genauso wenig wie die Frage ob Ehe oder nicht. Die Kinder sind geboren und gehen zur Schule. Mit wohltuender Selbstverständlichkeit erzählen die Charaktere bei Partys mit den Hetero-Freunden vom ersten Mal, von kleinen Bettgeschichten mit ihren 16-jährigen Mitschülerinnen. Ja, klar geht es in CONCUSSION dann doch "nur" um Selbstfindungen. Dabei aber eben nicht um eine Verhandlung der eigenen sexuellen Identität. Die steht, die steht fest. Die wird mit radikaler, erfrischender Selbstverständlichkeit gelebt. Auch wenn es darauf hinausläuft, sich dem heteronormativen Lebensstil anzunähern. Diese beiden Frauen wissen, wer sie sind. Und das macht einen Unterschied, der in CONCUSSION deutlich artikuliert wird.

Abbys Weg führt sie schließlich zur Sexarbeit. In ihrem durchgestylten Loft empfängt sie jüngere Frauen, die zwar viel Geld haben. Doch wenig erfüllende Sexualität. Stacie Passon lässt uns Zeuge einer interessanten Entwicklung werden. Die zurückhaltende, skeptische Abby, die als "Eleanor" auftritt, wandelt sich von Frau zu Frau in eine gleichzeitig professionellen wie Anteil nehmenden Sexworkerin, die dabei manches über sich selber lernt. Trotzdem holt sie nachmittags die Kinder von der Schule ab und macht die Wäsche. Pflichtgefühl ist Teil der Struktur dieser Figur. Die Sex-Szenen, von denen es viele gibt, bleiben dabei amerikatypisch über der Gürtellinie bzw. der Bettdecke. Das ist auch vollkommen o. k. so. Es passt zu einer durch und durch hochwertig gestalteten Produktion, deren Fragen an die Story andere sind, denn die nach der zeitgenössischen Darstellung von lesbischem Sex.

CONCUSSION | (c) David Kruta

Natürlich will es die Dramaturgie so, dass Abbys gewagtes Konstrukt keinen dauerhaften Bestand hat. Irgendwann kommt auch für sie der Punkt, an dem die Dinge in ihren sauber getrennten Welten außer Kontrolle geraten und der Fortbestand ihrer Ehe mit Kate auf dem Spiel steht. Genau an diesem Punkt vollzieht Stacie Passon in CONCUSSION eine entscheidende Abgrenzung: Wo die Hetero-Ehe einfach zerbricht, findet ihr lesbisches Paar eine Lösung für ein zurück zur Gemeinsamkeit. Ohne Kompromisse, ohne ein pragmatisches Agreement keine Zukunft für ihre Familie. Das klingt theoretisch eher bitter und irgendwie genauso langweilig wie Abbys Ausgangssituation zu Beginn. Aber in der Zwischenzeit konnten wir eine starke Frau erleben, und wie sie lernte, sich aus ihrer Sinnkrise zu befreien ohne das dabei alles zu Bruch geht. Das altmodische Wort Respekt steht plötzlich ungeschrieben über allem. CONCUSSION gibt eine Ahnung davon, wie toll nicht-heterosexuelles Kino im Allgemeinen wäre, würde es nur endlich anfangen sich selbst, seine Figuren und sein Publikum zu respektieren.

CONCUSSION
USA 2012
93 Minuten
HDCAM, Farbe
Regie, Buch: Stacie Passon
Kamera: David Kruta
Schnitt: Anthony Cupo
Musik: Barb Morrison
Produzenten: Rose Troche, Anthony Cupo
Darsteller: Robin Weigert, Julie Fain Lawrence, Maggie Siff, Jonathan Tchaikovksy
Festivals: Sundance 2013 - US Wettbewerb, Berlinale 2013 - Panorama
(c) Bildmaterial: David Kruta/image.net