Berlinale 2015 - Bulletin (10) - NUCLEAR NATION 2

Ein Mann sitzt an seinem kleinen Küchentisch, er skizziert auf einem Blatt Papier mit Kugelschreiber in einfachen Strichen die Situation. Eigentlich ist es ein Kreislauf mit zwei Reservoirs: Ein Reservoir für frisches Kühlwasser, eines für Gebrauchtes. In der Mitte das Herz, die Brennstäbe für die Kernreaktion, deren ununterbrochene Kühlung dafür sorgt, dass diese keine Gefahr darstellen

© 2014 Documentary Japan, Big River Films

Für den Vater dieses Mannes war dies ein hochsicheres System. Er war einer der Ingenieure, die die Reaktoren des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi konzipiert und aufgebaut hatten. Dieser Mann war stolz auf sein Lebenswerk und von dessen Unzerstörbarkeit überzeugt.


Der 11. März 2011 stürzte diesen Ingenieur in eine tiefe Depression, von der er sich nie mehr erholen sollte. Heute betet sein Sohn an einem improvisierten kleinen Schrein im winzigen Wohnzimmer für ihn. Sein Sohn ist Arbeiter in dem, was von Fukushima Daiichi übrig blieb. Seine Aufgabe besteht darin, die Brennelemente zu bergen und die Anlagen zurückzubauen - soweit möglich.

Die Skizze, die er für den Filmemacher Atsushi Funahashi in dessen Dokumentation NUCLEAR NATION 2 anfertigt, dient der Veranschaulichung: Wie sieht es derzeit ungefähr in Reaktor 2 aus? Vom Kreislauf ist nichts mehr übrig und die Brennstäbe sind unter Gebäudetrümmern längst zu einem glühenden Etwas verschmolzen, dessen radioaktive Strahlung Menschen binnen Minuten umbringt und selbst modernste Technik in kurzer Zeit zerstört.

Seine Vorgesetzten, so der Arbeiter, planen in einigen Jahrzehnten und mit Hoffnung auf technische Innovationen, dieses Amalgam sichern und bergen zu können. Doch er, der Sohn von einem der Väter des AKW Fukushima Daiichi, bezweifelt das: "Wir reden hier eher über Jahrhunderte."

Heute lebt dieser Arbeiter in einer winzigen Interimsbehausung außerhalb des Sperrgebiets, zu dem der Landkreis Fukushima größtenteils geworden ist. Er war Einwohner der Kleinstadt Futaba, in unmittelbarer Nachbarschaft zum Atomkraftwerk. Diese Stadt ist heute eine Geisterstadt, in der die Trümmer des Erdbebens, welches die Katastrophe auslöste, immer noch die Hauptstraße säumen, als ob es gerade erst geschehen wäre.

© 2014 Documentary Japan, Big River Films

Atsushi Funahashi hat dieses Gebiet bereits 2012 besucht. Im Zentrum seiner damaligen Dokumentation NUCELAR NATION standen jedoch die Bewohner Futabas, die vor der Katastrophe flohen, in einen großen Schulkomplex im Nachbarlandkreis evakuiert wurden und in dieser Notunterkunft erst mal sortieren mussten, was geschehen war - Gemeindeverwaltung und Bürgermeister inklusive.

In NUCELAR NATION 2 versammelt Atsushi Funahashinun das Material, das seit seinem ersten Film entstanden ist. Es ist die Fortsetzung der Erzählung vom Schicksal Futabas, der Stadt ohne Land. Der ältere Bürgermeister der Stadt, der einst stolz auf seinen Nachbar das AKW war, wandelte sich infolge des Unglücks zum radikalen Gegner der Atomenergie und legte sich fortwährend mit der Zentralregierung und dem Kraftwerksbetreiber TEPCO an.

Die Dokumentation lässt uns beobachten, wie dieser Mann, der bei seinen Einwohnern hoch angesehen ist, 2012 von jüngeren, vermeintlich besser wissenden Mitgliedern des Stadtrats aus dem Amt gejagt wird. "Ich schäme mich, diese Männer gewählt zu haben", gibt einer der Bewohner wütend der Kamera zu Protokoll. Der Filmemacher beobachtet sehr genau, wie auch der neue Bürgermeister zum Gefangenen zwischen allen Fronten wird.

Atsushi Funahashi sondiert in seiner visuell angenehm unspektakulären Dokumentation, was dieses Katastrophe mit Menschen anrichtet, ganz egal, auf welcher Seite sie stehen, ob als Bewohner, als Politiker, Beamte oder Angestellte von TEPCO. Für die Bewohner und deren Kommunalpolitiker sind zwei Dinge klar: Mit der Atomenergie gibt es keine Zukunft. Mit einer Politik des Aufschiebens und Negierens einer Zukunftsperspektive für sie und ihre Gemeinde ebenso wenig.

Derweil suchen die Verantwortlichen von TEPCO und dem Tokioter Umweltministerium nach Plätzen für die Zwischenlagerung des radioaktiven Mülls. Ihre Wahl fällt auf einen Ort, an dem es offenkundig für lange Zeit viel Platz und keine Menschen geben wird: Futaba. Die einst stolze Atomstadt, deren Familien teilweise seit Jahrhunderten dort lebten, hat nur noch Atommüllager eine Zukunft. Dies den Bewohnern offen ins Gesicht zu sagen, traut sich indes niemand. Stattdessen versuchen sie, privaten Grund und Boden mit fadenscheinigen Begründungen und zu Schleuderpreisen abzukaufen.

NUCLEAR NATION 2 verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise, dass Fukushima nicht nur für die schlimmste Atomkatastrophe der Menschheitsgeschichte steht, sondern auch für die alles umfassende Krise, in der sich die japanische Gesellschaft befindet. Eine Gesellschaft, die offenbar die Fähigkeit verloren hat, sich mit den Konsequenzen des eigenen Handelns auseinanderzusetzen.

NUCLEAR NATION 2 | JAP 2014 | 114' | Atsushi Funahashi | FORUM