Berlinale 2015 - Bulletin (3) - BEIRA-MAR

Der spannendste, weil glaubwürdigste Augenblick dieses Films kommt früh, nach kaum fünfzehn Minuten Laufzeit: Tomaz geht auf einer Raststätte pissen, die Kamera schaut ihm von hinten zu. Er spült, knallt den Klodeckel mit den Füßen runter, setzt sich, kramt einen Stift raus und malt ein Gesicht an die Kabinenwand. Ein Gesicht eines Jungen - ohne Mund. Tomaz schmiert nicht einfach irgendwas an die Wand, er kann zeichnen. Stift und Notizbuch trägt er immer bei sich.

Mateus Almada (Martin) & Maurício José Barcellos (Tomaz) | (c) Avante Filmes/IFB2015

Auf diesen Charakter eingestimmt, der ein eigenbrötlerisch-anarchisch postpubertierender Grübler sein könnte, wird man in den verbleibenden 68 Minuten ziemlich enttäuscht. Was die Regisseure Filipe Matzembacher und Marcio Reolon in ihrem Werk BEIRA-MAR zusammenbauen, überzeugt wenig. Es fängt bei den Darstellern an, die irritierend jung sind, verglichen mit den Figuren, die sie verkörpern sollen: Tomaz und Martin. Sie sind beste Freunde und fahren auf ein Wochenende an die See und in irgendeine Küstenstadt, die im brasilianischen Winter liegt, der semi-kalt und vor allem windig ist.

Zwei Jungs, wirklich Jungs, deren Äußeres sie maximal als 16-Jährige erscheinen lässt. Aber sicherlich nicht als ein Duo, das allein im VW-Geländewagen über die Autobahn brettert, raucht, wie Schlote und fleißig Bierflaschen leert. Martin hat vor Kurzem seinen Großvater verloren. In dessen opulentes Haus an der Küste fährt er nun mit seinem Kumpel. Da sitzen sie nun also, zu zweit und irgendwie unschlüssig, was sie hier eigentlich sollen. Mit Augen, die leerer und gelangweilter kaum sein könnten.
Es wird erkennbar, dass in Martins Familie ein Konflikt die Sippschaft spaltet. Jene, die an der Küste wohnen, wollen mit denen aus der Großstadt (also auch Martin) nichts zu tun haben. Als Martin sie besucht, wird er eisig empfangen. Dieser rätselhafte Konflikt, der da erst mal so in den Film gestellt ist, bleibt bis zuletzt unaufgelöst. Mutmaßlich liegt es an einer schon lange währenden Sprachlosigkeit, die zum Schluss überwunden werden wird. Natürlich.

(c) Avante Filmes/IFB2015

Ein Film, in dem alles auserzählt wird, bricht unter dieser narrativen Last zwangsläufig zusammen. Doch eine Geschichte, in der die zentralen Fixpunkte einfach so behauptet werden, ohne sie ansatzweise zu grundieren, ist genauso zum Scheitern verurteilt. Das ist zweite Problem an BEIRA-MAR - neben dem Casting. Dieses Drehbuch will so manches erzählen: Coming-of-Age, Coming-Out, sanfte erotische Annäherungen zweier Freunde, Aufarbeitung der Vergangenheit. Allein: Man mag nichts davon glauben, oder, um diese schwierige Vokabel zu verwenden, authentisch finden.

Stattdessen werden Drehbuchplattitüden abgespult. Solche zum Beispiel: Kaum angekommen lungern die Jungs des Nachts auf einer Minigolf-Anlage herum, trinken Bier, kabbeln sich ein Bisschen. Tomaz - ein kleiner hagerer Typ - versucht Steine in einen Basketballkorb zu werfen. Doch seine Würfe sind schlecht - natürlich. Martin - größer, muskulöser, männlicher - versucht es mit einer leeren Bierflasche. Er trifft, die Flasche zersplittert am Boden und schon kommt aus dem Dunkel eine wütende Männerstimme und scheucht sie davon - logischerweise. Es muss erst das Glas klirren.

Hier darf geratet werden, wer von den beiden den dezidiert schwulen Charakter spielt. Kleiner Tipp: Basketball ist nicht seine Stärke. Später in der Geschichte, die Jungs haben Besuch von einer Freundin und deren Freunden. Leere Bierflaschen bevölkern schnell den Tisch, man spielt "Wahrheit oder Pflicht". Tomaz muss sich die Haare blau färben lassen, was optisch grausam schief geht. Martin trifft das Schicksal, mit einem Mädel in den Schrank und zwei Minuten Knutschen zu müssen. Kein Problem, er ist hier der Macker.

(c) Avante Filmes/IFB2015

Als die Flasche wieder auf Martin dreht, schicken die Mädels ihn und Tomaz zusammen in den Schrank. Es passiert - nichts. Sie schweigen sich an. Ein wild knutschender Ausbruch wäre in dieser Sekunde wohl zu naheliegend - jedenfalls für dieses Drehbuch. Aber es wäre zumindest mal ein Zeichen von Lebendigkeit gewesen. So setzt sich das fort. Postpubertierende tun, was Postpubertierende ohne Erwachsene angeblich so tun - jedenfalls in den Augen zweier Regisseure, die Mitte zwanzig bis Anfang dreißig sind.

Martin findet bei Zeiten noch das Notizbuch von Tomaz, in das er nicht reinschauen soll. Er entdeckt Skizzen von halb nackten Männerfiguren, was, so vermuten wir jetzt einfach mal, etwas bei ihm auslöst. Was genau? Das lässt sich erahnen. Soviel sei verraten: Tomaz und Martin landen letztendlich in der Kiste. Man ist gewillt zu sagen: Endlich. Das hat lange gedauert, 83 Minuten zu lang.

BEIRA-MAR/Seashore | BRA 2015 | Filipe Matzembacher, Marcio Reolon | 83' | FORUM