Machtkampf bei dröhnender Stille

DIE ERMORDUNG DES JESSE JAMES
DURCH DEN FEIGLING ROBERT FORD

Amerika und seine Helden. Kaum ein Land der Welt hat sich so viele Helden geschaffen wie Amerika: Superman, Spider Man, Batman, Captain America. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg war Amerika süchtig nach den edlen Rettern und Beschützern, die die Unschuldigen vor dem Bösen bewahren. Wo die Staatsmacht kapitulierte, sorgten die übermenschlichen Kräfte der Superhelden für Rettung in letzter Sekunde. Viel interpretierte man in sie hinein, vor allem aber das amerikanische Selbstbild: Gerecht, individuell, unangepasst, unabhängig, stark. Doch neben der Verehrung wurde gleichermaßen die Tragödie auf den Superkörper geschneidert, waren diese Helden doch immer Outlaws, die jenseits der Menschen leben mussten, welche sie den ganzen Tag über beschützen. Sie passten dann doch nicht ins Bild; so erzählten ihre Geschichten immer auch über Entbehrungen und Zumutungen. Superkräfte haben ihren Preis.

Die echten Outlaws strahlten mitunter eine noch größere Faszination aus als die Fiktionalen. Gemein konnten sie sein, Diebe und Halunken. Aber am Ende mussten sie für die gerechte Sache kämpfen, vornehmlich für jene, die nichts hatten. Heroische Figuren, berühmt-berüchtigt und gefürchtet: Billy the Kid, Jesse James. Selbst wenn sie eiskalte Mörder waren, so brachte und bringt ihnen dieses Land so etwas wie Ehrerbietung dar. Vielleicht aus Respekt vor dem Mut und der Courage dieser einsamen, gesetzlosen Gestalten. Die Mutigen trägt Amerika immer im Herzen. Jesse James war so ein – echter - Outlaw. Halb musste man ihn ob seiner Taten hassen, halb bewunderte man ihn. James fiel einem Mord zum Opfer. Geplant und ausgeführt durch Robert Ford: Ein junger Mann, unscheinbar und unbekannt. Jesse James war ein Mann mit Familie, Frau und Kindern. Er und sein Bruder waren für dutzende Raubüberfälle auf Banken, Postkutschen und Züge verantwortlich. Sie entsprangen den Nachkriegswirren des amerikanischen Bürgerkriegs und überfielen vornehmlich Institutionen, welche sich im Eigentum von ehemaligen Angehörigen der Unions-Truppen befanden. Jesses Ruhm unter den Anhängern der Konföderierten stieg. Dass er bei seinen Zugüberfällen Passagiere überging und nur die Safes ausraubte, verschaffte ihm sogar den Ruf eines Robin Hoods. Amnestie-Rufe für ihn und seinen Bruder wurden laut, blieben aber ungehört. Racheakte gegen die James-Brüder und die blutige Verfolgung durch Bahngesellschaften und Banken steigerten ihren Ruhm zusätzlich. Die James-Brüder waren Helden, Jesse James gab es als Abenteuerheftchen.

Robert Ford und sein Bruder stießen spät zu Jesse James. Die alte James-Bande war durch diverse Misserfolge arg dezimiert und schließlich aufgelöst worden, Jesse James selber war angeschlagen. Stark paranoid soll er zum Schluss gewesen sein. Vielleicht ein Grund, warum er sein Vertrauen ausgerechnet den Ford-Brüder schenkte. Jungs, die keinen Funken Erfahrung hatten. Am Ende wurde der Held eiskalt von hinten erschossen.

Der Film nähert sich dem Geschehen mit einem Off-Kommentar, dieser wird als Brücke immer wieder zu hören sein. Wir befinden uns zu Zeiten der zweiten James-Bande, die Fords sind neu dabei, und Robert versucht, den älteren der James-Bruder zu überreden, beim nächsten Überfall mitmischen zu dürfen; Jesse sitzt derweil am Lagerfeuer. Ruhig lässt Andrew Dominik diese Szene ablaufen, sein Darsteller Casey Affleck bekommt Raum, seinem Charakter eine erste Richtung zu geben: Robert Ford ist eine bemitleidenswerte Gestalt, ein jämmerlicher Taugenichts auf der Suche nach Anerkennung, man fühlt sich augenblicklich beschämt von den Anbiederungsversuchen gegenüber James. Hartnäckig ist er jedoch. Gespenstisch ist jene Ruhe, mit der Dominik diese Szene und seinen gesamten Film ablaufen lässt. Langsam manifestiert sich diese Zweierkiste James/Ford, diese tödliche Tragödie. Wo Hollywood sonst Wut und brodelnde Emotionen setzt, gibt’s hier schmerzhaft spannende Duelle der Nuancen.

Intellektuell wäre der Jesse James des Brad Pitt diesem Nichts von Typ heillos überlegen. Aber Brad Pitts Jesse James ist nicht viel besser dran als sein Widerpart. Die ewigen Überfälle, Schusswechsel, Fluchten, Morde, sie haben der Seele dieses Mannes arg zugesetzt. Zerfressen von Paranoia, belastet mit Krankheit und der Versehrtheit alter Verletzungen. Wenn es Winter ist in Missouri, und das ist es in diesem Film oft und lange, kann man kaum glauben, dass dieser kärgliche Typ auf dem Pferd ein Held für Tausende und ein berüchtigter Mörder ist. Andrew Dominik und Brad Pitt demontieren diesen rauen Helden komplett. Ein Affront in einem Land, in dem nach Gott gleich die Superhelden kommen. Aber wie war das? Sind Amerikas Helden nicht immer auch Selbstbildnis? Und ist es nicht so, dass diese stolze Nation derzeit eher am Boden denn an der Weltspitze liegt? Die Wunde im Herzen New Yorks ist noch frisch, und dieser elendige Krieg in der Ferne zerfrisst das Land. Jenes Land, das für diesen Krieg seine Ideale vergessen hat. Ideale? Jesse James ist Familienvater, ein gebildeter Mann mit Ehrgefühl. Man kommt nicht umhin, ihm Stil und Noblesse zuzubilligen. Doch diese Fassade blendet zu stark im Schnee von Missouri. Vor allem bei einem Mann, der den Finger immer am Auslöser zu haben scheint, für den Misstrauen zum Wahn geworden ist.

Robert Ford sieht dies alles nicht. Oder doch? Er will jenen großen Helden sehen, der in den Geschichten beschrieben ist. Diese Ikone, sein Idol. Die Ähnlichkeiten allein sind doch schon frappierend, die er alle aufzählen kann. Und die ihm sein Idol mit einem lässigen Wink aus der Hand schlägt. War es Wut über die fortwährende Ablehnung, über die Unerreichbarkeit, die Robert Ford zum Paktieren mit dem Gouverneur von Missouri, Thomas T. Crittenden veranlasste? Oder doch so etwas wie Aufrichtigkeit und Unrechtsbewusstsein? Oder pure Geltungssucht? Casey Affleck legt seinen Charakter auf großartige Weise ambivalent an. Dies alles kann Triebfeder für das Handeln des Robert Ford sein, aber im nächsten Moment scheint es genauso unmöglich, dass sich diese Figur überhaupt aus ihrer ehrfürchtigen Erstarrung lösen kann, ja sogar eine Waffe benutzt und tötet. In diesem 160 Minuten andauernden Gefecht, in dem sich bei dröhnender Stille ein Machtkampf ums nackte Überleben zwischen James und Ford entspinnt, zerreisst dieses Duell den Zuschauer beinahe. Selten gelingt es überhaupt bei irgendeinem Film, ganz egal ob Hollywood oder sonst woher, eine derart innere Spannung und Dichte zu erzeugen, wie sie bei DIE ERMORDUNG DES JESSE JAMES DURCH DEN FEIGLING ROBERT FORD erfahrbar ist.

Ästhetisch liefern Andrew Dominik und sein Kameramann Roger Deakins einen wunderschönen, düsteren Film ab. Melancholische Grundstimmung, getragen von großartigen Bildern: Deakins benutzt desöfteren kaputte oder fehlerhafte Glasfragmente vor der Kamera, bricht den Blick und das entstehende Bild - metaphorisch aufgeladene Bilder von Landschaften mit bedrückender Schönheit. Die Welt des Jesse James ist gezeichnet, der Bürgerkrieg hat seine Schatten hinterlassen, gleichzeitig sorgt die zunehmende Industrialisierung für tief greifende Veränderungen. Dies ist kein Western mehr. Und Jesse James wirkt wie ein Relikt aus vergangener Zeit zwischen wachsenden Städten und entseelter, winterlicher Ödnis. Das scheint er zu ahnen, ist er doch immer auf dem Laufenden, liest aufmerksam die Zeitungen. Ein alter Mann, obwohl gerade mal 35 Jahre alt. Schlussendlich steht Jesse James auf einem Stuhl, unbewaffnet, um ein Bild abzustauben. Hinter ihm die Ford-Brüder.

Ob DIE ERMORDUNG DES JESSE JAMES DURCH DEN FEIGLING ROBERT FORD zum Klassiker der Kinogeschichte taugt, wird letzten Endes nur die Zeit zeigen. Der Autor dieses Textes wiederum ist, aller kritischen Distanz zum Trotz, geneigt, diesen Streifen in diese Sphären zu heben, ganz persönlich gesehen: Zu großartig ist das Spiel seiner beiden Hauptdarsteller, annähernd einzigartig für das heutige Kino ist die atmosphärische Dichte und die dramaturgische Ruhe, welche eine fesselnde Intensität erzeugt. Dieser Film wirkt lange nach. Man vergisst ihn nicht, wenn man das Kino verlässt. Dies ist kein fröhlicher Streifen, im Gegenteil, er ist melancholisch und bedrückend. Er ist großes, karges Erzählkino, getragen von fantastischer Musik, getaucht in wunderschöne und seltene Kinobilder, die man so auch nur im Kino genießen kann. Man staunt etwas ungläubig darüber, dass die Traumfabrik noch derlei Filme hervorbringt. Filme jenseits profaner, an Kurzweiligkeit ausgerichteter Unterhaltungsware. Auch deshalb geht dieser Film, in den Augen des Autors, als wichtiger Streifen in die Kinogeschichte ein, weil er den Nachweis darüber führt, dass Hollywood noch Film und Kunst miteinander zu verbinden weiß.