Funktionieren müssen
NACHT VOR AUGEN
Blick aus dem Autofenster, die idyllisch wirkende Landschaft des Schwarzwalds fliegt vorbei - die erste Einstellung des Debütspielfilms der in Ulm geborenen, studierten Dokumentarfilmerin Brigitte Bertele. Die Kamera schwenkt auf den Beifahrer: Ein junger Mann mit undurchdringlichem Blick; David kehrt aus Afghanistan zurück. Schnitt.
Die alte Wohnung, etwas abseits im Wald gelegen, ist leer. Von seiner Auslandszulage hat Kirsten, seine Freundin, ein Nest in der Stadt eingerichtet. David scheint davon irritiert, auch wenn er oberflächlich Freude beteuert. In der ersten gemeinsamen Nacht wird er Reißaus vor ihren Annäherungsversuchen nehmen. Das Fundament für eine Persönlichkeit vor der Implosion ist gelegt. David hat sich offensichtlich schweres seelisches Gepäck aus Afghanistan mitgebracht, jedenfalls beharrt sein Vorgesetzter auf dem Besuch bei der Psychologin, was David kess zurückweist.
Zu einer Annäherung und Auseinandersetzung mit „dem eigenen Potential von Gewalt und Destruktivität" will Bertele, den Zuschauer mit NACHT VOR AUGEN bewegen, so berichtet sie‘s in einem Interview für den Katalog des 2008er Internationalen Forum des Jungen Films. Sie meint damit die unbekannten Flecken auf unserer seelischen Landkarte, die wir lieber vorziehen, nicht zu erkunden. David wiederum wird durch einen Vorfall während seines Einsatzes dazu gezwungen und entwickelt in einem persönlichen Umfeld, das lieber schweigt und ausblendet, ein zunehmend aggressives, selbstzerstörerisches Verhalten. Darunterhat in erster Linie sein 9-jähriger Halbbruder zu leiden, der David mit kindlicher Begeisterung und brüderlicher Bewunderung begegnet. David weist ihn von sich; Erinnerungsblitze an einen anderen Jungen tauchen vor seinen Augen auf: Afghanistan.
Stiller Druck
Doch der stille, unsichtbare (selbstauferlegte) Druck auf David wächst, und allmählich entgleitet ihm die Kontrolle über sich selbst! Er baut eine fatale Nähe zu Benni auf, der sich dieser, allen Reflexen des kindlichen Selbstschutzes zum Trotz, nicht entziehen kann. Gefährliche Spiele nehmen ihren Lauf. NACHT VOR AUGEN ist ein bemerkenswerter Film, zu allererst wegen des Sujets, das von der deutschen Öffentlichkeit nicht wahrgenommen werden will, obwohl Deutschland seit den ethnischen Konflikten auf dem Balkan Soldaten in Krisengebieten stationiert hat. In deren Folge wurden Bundeswehrsoldaten (aktuell in Afghanistan) immer öfter in Kampfhandlungen verwickelt. Diesbezüglich nimmt dieser (explizite) Kinofilm eine Vorreiterrolle ein, die nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Desweiteren überzeugt das Werk auch filmtechnisch: Brigitte Bertele gelingt ein atmosphärisch-fantastisch bedrückender, spannungsvoller Streifen mit einer in sich stimmigen Geschichte. Wobei hier ausdrücklich die Arbeit der Drehbuchautorin Johanna Stuttmann gewürdigt werden muss, die eine umfassende Recherche zum Thema betrieb, angestoßen von einer Begegnung mit einem Kriegsheimkehrer im persönlichen Umfeld, der ähnlich verstört aus seinem Einsatz heimkam wie hier David. Davids Charakter ist ebenso wie Bennis detailliert ausgearbeitet, was eine beklemmende Authentizität und Glaubwürdigkeit erzeugt.
Ungesehen, ungesagt
Nicht unerwähnt dürfen dabei aber die Parts der beiden Hauptdarsteller bleiben: Ohne Benno Koffler als David und Jona Ruggaber als Benni ist die Geschichte nicht vorstellbar, sieht man ihr Zusammenspiel erst einmal auf der Leinwand. Dieser Streifen funktioniert auf mehreren Ebenen, fordert vom Zuschauer emotionale Intelligenz, um auch das Unsichtbare, Ungesagte wahrzunehmen. Bertele inszeniert die Konstellation von David/Benni als in sich geschlossenen Mikrokosmos, an dem Interventionen von Außen abprallen. Nur sie selbst können ihm entfliehen. Aber Benni scheint zu sehr mit David verbunden. Die Konsequenzen aus den Erfahrungen dieser beiden miteinander, werden sich erst viel später zeigen, jenseits des Filmischen. Wenn man so will, erst im Kopf des Zuschauers. NACHT VOR AUGEN: Ein besonderer, wichtiger (dieses schwierige Wort sei hier einmal zurecht genutzt) Kinofilm der, neben allem Narrativen, auch noch durch seine Optik überzeugen kann.
NACHT VOR AUGEN
Deutschland 2008
91 Minuten
Digital, Farbe
Regie: Brigitte Bertele