Zeige- oder Mittelfinger?
SICKO
Man kann Michael Moore für seinen unverhohlenen Populismus kritisieren. Man kann gegen ihn argumentieren, ihm Fehler und Ungereimtheiten nachweisen. Ihn verteufeln und verklagen. Aber eines lässt sich einfach nicht bestreiten: Er trifft den Nagel immer auf den Kopf! Michael Moore ist die Feuerwehr, die nicht zum Löschen kommt, sondern noch ein paar Kanister Benzin in die Flammen wirft. In seinem Film SICKO beweist er dies erneut.
Dass das amerikanische Gesundheitssystem nicht das allerbeste ist, wissen die Europäer und jene 50 Millionen Amerikaner, welche nicht einmal eine Krankenversicherung besitzen.
Die anderen, knapp 200 Millionen, bekommen dies immer dann zu spüren, wenn sie von ihrer Krankenversicherung böse Briefe über nicht genehmigte Krankentransporte erhalten; Krankentransporte in einem Rettungswagen direkt vom Unfallort ins Krankenhaus.
Wenn sie vom Arzt gefragt werden, für welchen frisch amputierten Finger sie sich das Annähen leisten können. Oder wenn eine Mutter mit ihrem schwerkranken Baby aus dem Krankenhaus geschickt wird, weil sie nicht die richtige Krankenkasse besitzt.
Immer dann wissen die Amerikaner, dass da etwas nicht stimmt. Michael Moore wusste das auch, und er hat einen Film darüber gedreht. SICKO, abgeleitet vom englischen "sick" für krank, beschreibt jene oben genannten Fälle und noch viele weitere. Skandalöse Zumutungen offenbaren sich dem Zuschauer, bei denen auch eine journalistisch fundierte und zurückhaltende Berichterstattung nichts daran ändern würde, dass hier Menschenleben gegen Geld aufgewogen werden.
Das amerikanische Gesundheitssystem wurde unter Ronald Reagan vollständig privatisiert, lässt uns Moore lernen. Krankenkassen arbeiten nach dem Prinzip der Kapitalmaximierung und tun vieles für gesunde Bilanzen und stimmige Aktienkurse, aber wenig für ihre Kunden. Diese fürchten, bei schweren Erkrankungen nicht selten auf den Behandlungskosten sitzen zu bleiben, weil ihre Kasse irgendeine belanglose Erkrankung (die Jahre zurückliegt) als verheimlichte Vorbelastung einstuft, welche sie per Vertrag von der Kostenerstattung befreit.
Moore musste offenbar nicht tief graben oder lange recherchieren: Einem Aufruf auf seiner Homepage folgten zehntausende Mails Betroffener. Er kann aus dem Vollen schöpfen und bekommt den Durchschnittsamerikaner vor die Kamera, welcher gerne Auskunft erteilt. Und nicht nur der: Auch ehemalige Versicherungsangestellte erläutern die Machenschaften ihrer Ex-Arbeitgeber bereitwillig. Moores Populismus ist von hinterhältiger Natur: Drei 9/11-Rettungskräfte sehen ob ihrer freiwilligen Teilnahme an den Bergungsarbeiten keinen Cent vom Staat, obwohl sie unter starken psychischen und physischen Spätfolgen der Rettungsarbeiten leiden. Michael Moore lädt sie einfach auf ein Boot und verschifft sie nach Kuba, wo sich das kostenlose Gesundheitssystem selbstverständlich auch um die Besucher aus Amerika kümmert. Nachdem ihnen am einzigen Ort Amerikas mit kostenloser Rundumversorgung der Zugang verweigert wurde: Guantanamo Bay. Hier wird dem Affen richtig Zucker gegeben und die patriotisch-gestimmte amerikanische Volksseele zum Brodeln gebracht; Skandal total.
Aber trotzdem ist Mr. Moore ruhiger geworden. Den ganzen Film durchzieht eine ernste Nachdenklichkeit, man könnte es sogar Zweifel nennen. Die Zeiten, in denen er nur draufhaute scheinen vorbei. Er sucht nach Auswegen, das allerdings dann wieder bewusst naiv und oberflächlich, womit sich die reichlich blauäugige Sichtweise auf Kanadas oder Europas Gesundheitssystem erklären ließe. Würde er tiefer schürfen wollen, wären die Wehwehchen und Blessuren der europäischen Krankenversorgung auch für ihn unübersehbar. Man muss allerdings konstatieren, dass der Unterschied zwischen Europa und Amerika diesbezüglich schon groß ist.
Michael Moores SICKO: Ein guter, aber durchschnittlicher Film, genauso wie sein „Fahrenheit 9/11“. Die Virtuosität, mit der er auf seine ureigene, treffsichere Art in „Bowling For Columbine“ zu Werke ging, ist bei SICKO größtenteils raus. An Zielsicherheit fehlt es Moore dabei definitiv nicht, aber der Weg zum Ziel ist für ihn merklich länger geworden. Dem einsamen, lautstarken Rufer im Wald geht allmählich die Puste aus; vielleicht ist es Resignation, vielleicht Ermüdung. Auch ein Michael Moore ist irgendwann am Ende seiner Kräfte. Hoffentlich hat er eine gute Krankenversicherung.