Aufschrei in der Utopie

NEVER LET ME GO -
Alles was wir geben mussten



Stellen sie sich vor sie, befänden sich genau da, wo sie jetzt auch sind. Zur selben Zeit, mit derselben Kleidung, derselben Wohnung, also 1:1 demselben Leben. Nur mit einem Unterschied: Der medizinische Fortschritt ermöglicht ihnen problemlos eine Lebenserwartung von über 100 Jahren. Denn für jedes kaputte Organ bzw. Körperteil können ihnen die Ärzte schnell den perfekten Ersatz bieten, ganz egal was gebraucht wird.

Der Ersatz stammt aber nicht von irgendwelchen Unfallopfern. Sondern von Menschen, die extra und nur für den einen Zweck der Organspende gezüchtet wurden. Sie sind wortwörtliche Ersatzteilspender, deren Existenz endet sobald sie das letzte lebenswichtige Organ abgegeben haben. Möchten sie in so einer Welt leben, die bis auf diesen einen Unterschied die gleiche Welt ist? Vor diese Frage stellt der Film ALLES WAS WIR GEBEN MUSSTEN bzw. NEVER LET ME GO seine Zuschauer. Regisseur Mark Romanek erzählt, basierend auf dem Roman „Was vom Tage übrig blieb“ von Kazuo Ishiguro, die Geschichte dreier Menschen: Kathy, Ruth und Tommy.

Der Film startet mit einem Prolog und installiert dann einige Grundkonstanten: 1952 und 1967 sind zwei wichtige Jahreszahlen. Dazwischen fanden die Menschen einen Weg, um mehr als 100 Jahre alt zu werden.

Das erste Bild: Ein junge Frau (Carey Mulligan) mit leidvollem Gesicht, eingerahmt von mittellangem, blonden Haar. „Sie sei eine gute Betreuerin“ – sagt sie aus dem Off. In der Spiegelung der Fensterscheibe, vor der sie steht, sieht man schemenhaft einen Operationssaal und wie jemand dort hineingeschoben wird. Es scheint so, als ob die Szene im Heute spielen würde.

„Irgendwann zermürbt es einen“ – erzählt sie weiter. „Man schaut nicht mehr nach vorn, sondern zurück.“ Im Umschnitt sehen wir einen jungen Mann, der für eine OP vorbereitet wird, eine große Narbe klafft an der Seite seines Oberkörpers. Sei Blick geht zu ihr. Szenenwechsel und Zeitsprung.

(c) Bild: 20th Century Fox

„Halsham“ ist eine Schule, die hohen Wert auf die Ausbildung zu geradezu perfekten Kindern bzw. Erwachsenen legt. Die Leiterin des Internats, Miss Emily (Charlotte Rampling), ruft dies ihren jungen Schülern beim Morgenappell ins Gedächtnis: Drei Zigarettenstummel wurden gefunden. „Auch wenn die Kinder vielleicht Erwachsene beim Rauchen beobachtet hätten, so ist es von absoluter Notwendigkeit das sie, die Kinder, nicht rauchen und gesund bleiben.“ – ermahnt sie.

Strenge, aber doch gütige Lehrer, viel Bildung, viel Kunst, viel Sport und Bewegung in einer malerischen Umgebung. „Halsham“, so zeigt es uns der Film in ausgesucht schönen Bildern, scheint ein perfektes Internat zu sein. Die neue Lehrerin der vierten Jahrgangsstufe, Miss Lucy (Sally Hawkins), begegnet dieser Schule mit einem gewissen Argwohn. Etwas stimmt hier nicht, denn die Kinder scheinen das Schulgelände niemals zu verlassen. Sie haben regelrecht Angst vor der Welt außerhalb.

Kathy, ein unscheinbares Mädchen, das sich sehr für den Außenseiter Tommy interessiert. Die beiden werden Freunde und nähern sich auf ihre kindliche Weise einander an. Das beobachtet wiederum Kathys Freundin Ruth, die Tommy irgendwann für sich beansprucht. Das Drehbuch bleibt zunächst beim Leben dieser Drei in der Schule. Bis sie irgendwann von ihrer Lehrerin Miss Lucy etwas erfahren, das sie eigentlich noch nicht erfahren sollten.

(c) Bild: 20th Century Fox

Zeitsprung, die 80er. Aus Kindern sind junge Erwachsene geworden, die das Internat verlassen haben und auf einen malerischen und ebenfalls sonderbar isolierten Bauerhof ziehen. Ruth (Keira Knightley) und Tommy (Andrew Garfield) sind ein festes Paar, Kathy steht außen vor und versucht eine Freundschaft zu beiden zu halten. Im ungefähren Wissen um ihr Schicksal hadern alle drei zunehmend mit ihrem Alltag und mit der Frage nach ihrer Herkunft. Sie haben keine Eltern, das wissen sie. Aber welche Vorbilder sie haben, wissen sie nicht. Dafür hat sich ein neues Wort in den Sprachgebrauch eingeschlichen: „Vollendung“. Vielleicht der brachialste Euphemismus, den ein Kinodrehbuch seit Langem verwendete.

Regisseur Mark Romanek erzählt seinen Film zunächst weiter wie eine klassische Comig-Of-Age-Geschichte. Nur hier und da bekommen wir mit, dass diese Menschen anders sind. Sei es durch ihre Sensorarmbänder, mit denen sie sich stets zu Hause an und abmelden müssen. Oder durch den Lieferwagen, der regelmäßig Nahrungsmittel vorbei bringt und der einzige Kontakt zur Außenwelt überhaupt zu sein scheint. Auf dem Lieferwagen prangt das unscheinbare Logo des „NDP“, des Nationalen Spender Programms. Zwei weitere Begriffe werden wichtig: „Aufschub“ und „Betreuer“.

(c) Bild: 20th Century Fox

Unaufgeregt, ganz und gar konzentriert auf die Dreiecksgeschichte, setzt sich der Film fort. Stück für Stück bricht jedoch etwas in diese scheinbar hermetische Welt ein; etwas Monströses. Was das ist, darauf bekamen wir zwar schon im ersten Bild des Films einen Hinweis. Doch NEVER LET ME GO gibt die eigentliche Tragweite dessen, was hier geschieht nur langsam, aber dafür umso eindrücklicher Preis. Irgendwann sind wir mitten drin in einem menschlichen Alptraum, dessen Stille, dessen gezielt pittoreske Bilder und die geradezu meditative Besinnlichkeit einem die Kehle zuschnüren.

Die Insel, Groß Britannien, ist einmal mehr Schauplatz einer düsteren Utopie im Heute: Alfonso Cuarón hat sich in seinem Endzeitthriller CHILDREN OF MEN ähnlicher Bilder bedient. Unsere heutige Welt kollabiert darin zusehends, weil die Menschheit ihre Fähigkeit zur Fortpflanzung verloren hat und nun ihrem absehbaren Ende entgegensteuert. Alles so sicher Geglaubte ist plötzlich bedeutungslos. Das reanimierte Zombie-Genre geht mit den Thrillern 28 DAYS LATER und 28 WEEKS LATER einen ähnlichen Weg und lässt unsere Zivilisation von jetzt auf gleich im Blutrausch untergehen. In beiden Filmen gibt es letzten Endes aber wenigstens irgendeine Form von Ausweg: Sei es der Versuch der Flucht oder der Freitod.

(c) Bild: 20th Century Fox

In NEVER LET ME GO werden allerdings weder der Zuschauer noch die Figuren durch einen allzu naheliegenden Griff in die dramaturgische Trickkiste erlöst. Nein, nichts dergleichen. Hier gibt es keinen Aufbruch und Ausbruch. Und genauso wenig gibt es Hoffnung. Nur einen entsetzten Aufschrei aus Leibeskräften, als die Ausweglosigkeit der eigenen Existenz endgültig klar ist.

Die Monstrosität einer Menschheit, die Menschen als wehrlose Ersatzteillager züchtet, ist ein durchaus klassischer Kinostoff – jedenfalls für die Kinowelten im Bereich der Science-Fiction. Davon könnte NEVER LET ME GO auch als ausgemachtes Drama kaum weiter weg sein. Alles scheint so normal, alles scheint so nah, alles scheint so möglich. Der einzig nötige Schritt dazu ist offenbar die Entscheidung für Fortschritt und Leben - um ausdrücklich jeden Preis. Zu keinem Zeitpunkt wird das dieser Film dermaßen explizit, und damit auch irgendwie abstrakter formulieren, nur einmal kommt der Begriff Ethik überhaupt zur Sprache. NEVER LET ME GO bleibt immer bei seinen Figuren, fokussiert sich ganz auf den einzelnen Menschen. Nicht die schlechteste Weise, um sich der Romanvorlage und Grundfragen nach den Grenzen von Fortschrittsglaube und unerbittlicher Gesundheitsfixierung anzunähern. Denn so trifft NEVER LET ME GO sein Publikum ins Mark und lässt es auch Tage später noch nicht los.

Original-Plakat



















NEVER LET ME GO
(Alles, was wir geben mussten)
Großbritannien/USA 2010
103 Minuten
35mm, Farbe

Regie: Mark Romanek
Buch: Alex Garland
Buchvorlage: Kazuo Ishiguro
Kamera: Adam Kimmel
Musik: Rachel Portman
Schnitt: Barney Pilling
Darsteller: Carey Mulligan, Andrew Garfield, Keira Knightley, Charlotte Rampling, Sally Hawkins, Nathalie Richard (Madame), Andrea Riseborough, Domhnall Gleeson
Verleih: Twentieth Century Fox

(c) Bilder: 20th Century Fox 2011