Berlinale 2024 – der Dauerliveblog: Die Abrechnung
28. Februar 2024, 18.30 Uhr: Die Abrechnung
45 Filme aller Längen konnten zwischen dem 15. und 25. Februar 2024 gesichtet werden. Sie seien im Folgenden wertend kategorisiert:
# Schimmernd
HENRY FONDA FOR PRESIDENT | Forum
BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ | Panorama
THE WRONG MOVIE | Forum
Still aus THE WRONG MOVIE | (c) Foto: Keren Cytter/IFB 2024 |
# Zeitlos
DIE DEUTSCHEN UND IHRE MÄNNER – BERICHT AUS BONN | Retrospektive
HERZSPRUNG | Retrospektive
TOBBY | Retrospektive
# Unverzichtbar
REPRODUKTION | Forum
YOAKE NO SUBETE – ALL THE LONG NIGHTS | Forum
MIT EINEM TIGER SCHLAFEN | Forum
SASQUATCH SUNSET | Special
LOVE LIES BLEEDING | Special
DAS LEERE GRAB | Special
DER UNSICHTBARE ZOO | Forum
# Ordentlich
MADE IN ENGLAND: THE FILMS OF POWELL AND PRESSBURGER | Special
FILMSTUNDE_23 | Special
SPUREN VON BEWEGUNG VOR DEM EIS | Forum
IHRE ERGEBENSTE FRÄULEIN | Forum
FAVORITEN | Forum
REPUBLIC | Forum
TONGO SAA | Panorama
YOUNG HEARTS | Generation
SAYYAREYE DOZDIDE SHODEYE MAN – MY STOLEN PLANET | Panorama
IL CASSETTO SEGRETO | Forum
# Nebensächlich
AVERROÈS & ROSA PARKS | Special
QUEBRANTE | Forum Expanded
FOR HERE AM I SITTING IN A TIN CAN FAR ABOVE THE WORLD | Forum Expanded
REDAKTSIYA | Forum
AFTERWAR | Panorama
SEX | Panorama
OASIS | Forum
# Sinnlos
DAHOMEY | Wettbewerb
BETÂNIA | Panorama
TEACHES OF PEACHES | Panorama
SĂPTĂMÂNA MARE | Forum
JANET PLANET | Panorama
LA HOJARASCA | Forum
INTERCEPTED | Forum
DETOURS WHILE SPEAKING OF MONSTERS | Forum Expanded
GRANDMAMAAUNTSISTERCAT | Forum Expanded
THE PERFECT SQUARE | Forum Expanded
HERE WE ARE | Forum Expanded
# Schrecklich
BETWEEN THE TEMPLES | Panorama
THE VISITOR | Panorama
I SAW THE TV GLOW | Panorama
I DON’T WANT TO BE JUST A MEMORY | Forum Expanded
Damit schließt der Dauerliveblog zur Berlinale 2024.
Die 75. Berlinale geht in irgendeiner Form im Jahr 2025 über die Bühne. Interessanterweise war ein Termin zum Redaktionsschluss noch nicht bekannt.
Aber soviel ist klar, das Festival bekommt eine neue Führung. Zum Glück.
28. Februar 2024, 16.32 Uhr: Kunst & Ficken
„Wenn ich Glück habe, mach’ ich noch ein Jahr, und dann will ich wenigstens ein paar Kratzer an der Wand hinterlassen.“ – mit diesem Zitat schließt ein Porträt über den Fotografen und Lyriker Jürgen Baldiga. Das Stück ist in der taz vom 21. Februar 1991 erschienen, auf einer Sonderseite jener Zeit, die rubriziert war mit „Leben mit dem Virus – Aids in Berlin“.
Archiv – Teil 1
Man findet diesen Text heute tief in der internen alten Archivdatenbank der taz (als taz-Mitarbeiter habe ich darauf Zugriff), welches bis 1999 genutzt wurde und wo alle erschienenen Zeitungsseiten seit Beginn der taz und bis ’99 als Faksimile gespeichert sind. Auf die Idee der Suche im alten taz-Archiv brachte mich Jürgen Baldiga. Nicht persönlich, denn Baldiga ist seit etwas mehr als 30 Jahren tot. Aber er erwähnt die taz in einem seiner Tagebücher.
Wenn er nicht andere fotografierte, nahm er sich selbst ins Bild: Jürgen Baldiga | (c) Foto: Baldiga/Salzgeber/Schwules Museum/Aaron Neubert |
Das alte taz-Archiv fördert zahlreiche Einträge unter dem Namen Baldiga zutage. Die taz jener Zeit war sehr interessiert an der nicht-heterosexuellen Subkultur Berlins und nicht selten waren tazler:innen auch selber Teil dieser, genauso wie Baldiga. Diverse Berichte über Ausstellungshinweise und Besprechungen mit Baldiga-Bezug finden sich. Zudem druckte die taz desöfteren Fotos von ihm ab. Am 12. Juni 1985 bebilderte sie den Bericht zu einem Hearing über ein Grundsicherungsprogramm der Grünen mit einem Baldiga-Foto. Das Bild zeigt eine Rentnerin, die in einem Mülleimer wühlt.
Am 1. Dezember 1992 prangt ein Baldiga-Selbstporträt sogar auf der Titelseite: Es ist die Ausgabe zum Welt-Aids-Tag. Auch am 10. Dezember 1993 findet sich auf Seite 26 ein Baldiga-Selbstporträt – es bebildert seinen Nachruf, Überschrift: „Unter Engeln“.
Archiv – Teil 2
Jürgen Baldigas Nachlass lagert heute im Archiv des Schwulen Museums in Berlin. Was für ein Ort dieses Archiv ist, wie dieser Nachlass heute aussieht, Filmemacher Markus Stein zeigt es im Anfang seiner Arbeit von BALDIGA – ENTSICHERTES HERZ.
Die Kisten, in denen die Archivalien aufbewahrt sind, der Inhalt, die Tagebücher, Fotonegative, Abzüge, Bücher etc. Filemacher Markus Stein verortet, nein, er inszeniert die Materialien an ihrem gegenwärtigen Aufenthaltsort, dem Archivraum. Diese Materialien haben ihren Besitzer lange verloren, sie liegen nun in Magazinschränken, umgeben von anderen Toten, von anderen Geschichten. Darauf wartend ... HIER WEITERLESEN
▪︎ Berlinale Panorma Dokumente
24. Februar 2024, 22.45 Uhr: Zukunft
Letzter Abend, letzter Film des Jahrgangs 2024: DAHOMEY.
Wie schon 2022 ein Goldener-Bär-Gewinner, der im Panorama besser aufgehoben gewesen wäre. Was das im Wettbewerb zu suchen hatte, bleibt Chatrians Geheimnis.
Wahrscheinlich weil irgendwas mit Politik. Aber nach diesem schrecklichen Jahrgang sollte die Berlinale hoffentlich und endlich davon geheilt sein, Politik machen zu wollen. Gute Kunst ist übrigens in sich politisch, sie muss sich nicht noch das Label „politisch“ geben. Wie wäre es also mal wieder mit Kunst auf der Leinwand?
Frau Tuttle, bitte übernehmen Sie, und tun sie irgendwas. So kann es nicht weitergehen.
Gute Nacht, Berlinale 2024.
24. Februar 2024, 14 Uhr: Herzsprung-Rot
Helke Misselwitz' HERZSPRUNG, eine Erzählung über eine unmögliche Liebe, jedenfalls in einem kleinen Ort irgendwo in der Prignitz in den frühen 90ern. Gedreht 1991, noch vor Lichtenhagen.
Die junge, schöne Johanna, frischgebackene Witwe, soeben arbeitslos geworden, und der nicht minder schöne, Akkordeon spielende Fremde ohne Namen. Sie, weiß, Tochter eines überlebenden NS-Verfolgten. Er, schwarz, Afrodeutscher. Sie geraten unvermittelt aneinander, und doch ist sofort klar: Liebe.
Still aus HERZSPRUNG | (c) Foto: DEFA Stiftung/Helga Paris |
Fortan kreist Misselwitz' Erzählung um dieses junge Paar und das Aufblühen einer vielleicht untrennbaren Verbindung an einem unwirtlichen Ort zu einer unmöglichen Zeit. Die örtlichen Neonazis stiften derweil Unruhe, beschmieren das NS-Mahnmal am Ort, zum Entsetzen von Johannas Vater. Er sieht Unheil kommen.
Einer der Neonazis, Soljanka sein Name, sie kennen sich seit Kindheitstagen, fühlt sich zu Johanna hingezogen – und hasst ihre Verbindung zu diesem anderen Kerl.
Rot ist das Blut der Gänse, die Johanna in der Schulküche rupft, bevor ihr der Job gekündigt wird. Rot ist das Blut, das überall schwimmt, wenn Johannas Ehemann erst im Kuhstall Amok läuft und die Waffen dann gegen sich selber richtet. Rot ist der kleine Schienenbus, der Johannas Freundin Lisa weg von hier bringt, während Johanna zurückbleibt. Rot ist das Haar von Soljanka, während alle anderen in der Gang ihre Haare längst raspelkurz tragen. Rot sind die Highheels, die Johanna anzieht für ihre Verabredung mit ihrem Liebsten am Silvesterabend. Rot ist das Blut – von Johanna. Herzsprung-Rot.
Misselwitz' HERZSPRUNG, was für ein unendlich schöner und unendlich trauriger Film.
▪︎ Berlinale Retrospektive
23. Februar 2024, 21.34 Uhr: LaBruce ist am Ende
Im Berlinale Panorama 2004 war ein kanadischer Filmemacher zu Gast, der zu seiner Zeit bereits ein faszinierendes Oeuvre vorweisen konnte und dabei vor allem Menschen damit aufregte, dass er klassische Formen filmischer Narration mit explizitem Sex fusionierte. Sex als Ausdrucksmittel des Körpers, der begehrende, der aufgegeilte, der fickende Körper als Träger der Erzählung. Zu seiner Zeit war das, obwohl wir über die 2000er sprechen, immer noch ein Affront. Bruce LaBruce.
RASPBERRY REICH war ein Film, der dem Publikum keine Kompromisse erlaubte. Entweder ließ man sich von dieser irren und politisch erfrischend schamlosen Versuchsanordnung eines schwulen RAF-Reenactments anstecken, oder man verließ das Kino. Radical Chic.
LaBruce nahm Motive der RAF und ihres Aktivismus/Terrors auf und drehte sie durch den schwulen Fleischwolf. Er erzählt die Entführung eines Bankierssohns, der sich jedoch recht schnell mit den Schwänzen seiner Entführer anfreundet. Im Zentrum aber steht die Anführerin der radikalen Zelle, Gudrun, gespielt von der einzigartigen Susanne Sachsse, die durchweg den Schwanz eines ihrer Kameraden heimsucht und zugleich dem Publikum den Agitprop einer schwulen Revolution entgegenbrüllt. Phrasen, zusätzlich illustriert mit leinwandfüllenden großen Lettern.
Schwule Umcodierung der RAF
RASPBERRY REICH bürstete lustvoll gut gepflegte Diskurs-Heiligtümer der Bundesrepublik gegen den Strich: Während das (konservative) deutsche Bürgertum viel Energie in die Dämonisierung der linken RAF und überhaupt alles Linken investierte, romantisierten weite Teile der alten Linken die tödliche Gewalt der RAF, ihre „Inhalte“ waren sowieso unstrittig. Dass im Zentrum der RAF ein heterosexueller Macho stand, störte beide Seiten nicht. Hier setzte Bruce LaBruce an und nahm nicht weniger als eine veritable schwule Umcodierung vor. RASPBERRY REICH, bis heute ein großartiger, ja zeitloser Film.
Fickende Körper, das RAF-Sujet, aber auch Zombies sollten in den folgenden 20 Jahren bestimmend bleiben für die Filme von Bruce LaBruce – in Berlin respektive im Kontext der Berlinale. In Venedig derweil, wo LaBruce in den letzten zehn Jahren ebenfalls mehrere Spielfilme vorstellte, scheint ein Namensvetter am Werk zu sein.
Besuch kündigt sich an – THE VISITOR | (c) Foto: Apolitical/Salzgeber |
2024. London. Ein nackter schwarzer Männerkörper steigt aus einem altmodischen Koffer, der am Ufer der Themse liegt. Wie er dorthin kommt – unbekannt. Vielleicht wurde er angespült. Der Körper schlüpft in das Zelt eines Wohnungslosen, schnappt sich dessen dreckige Klamotten, zieht sie an, streift durch die Stadt und landet in der Villa einer reichen Familie; Vater, Mutter, Sohn, Tochter – die Magd. THE VISITOR.
Pissen und Scheißen
Die Magd lässt ihn ein, führt ihn in die Küche. Sogleich lässt sie ihn in die Suppe pissen und auf einen Teller scheißen. Dinnertime. Er, der Besucher, sitzt HIER WEITERLESEN ...
22. Februar 2024, 12.33 Uhr: Kunst aus dem Körper
MIT EINEM TIGER SCHLAFEN: Vor der leeren Leinwand stehend – das gibt keine Kunst | Foto: Coop99 Filmproduktion/IFB 2024 |
Zum anderen schwenkt die filmische Erzählung wiederholt und mitten in einer Szene plötzlich ins Dokumentarische, und Zeitzeugen oder Nachfahren von Zeitzeugen übernehmen für einen Moment die Szenerie und die Erzählung dessen Hier weiterlesen ...
▪︎ Berlinale Forum
21. Februar 2024, 22.32 Uhr: Mediokres Irgendwas
„Fuck the Pain Away“ ist vielleicht einer der wichtigsten und wirkmächtigsten Songs im Oeuvre der Musikerin und Sängerin Peaches. Es geht darin um die Überwindung der mannigfaltigen Bürden und Konflikte, die eine patriarchale Gesellschaft Frauen aufoktruiert. Konflikte, deren Schmerzen eine paralysierende Wirkung entfalten, denen man sich aber widersetzen kann – durch Selbstermächtigung.
Eines gleich vorneweg: Die dokumentarische Arbeit TEACHES OF PEACHES ist alles andere als schmerzhaft und sicherlich nicht paralysierend. Und das ist in diesem Fall irgendwie ein Problem, denn diese Arbeit – sie lässt einen völlig ratlos zurück. Was in Anbetracht der zentralen Protagonistin, Merrill Beth Nisker, besser bekannt als Peaches, eigentlich einem Vergehen gleichkommt.
Merrill Beth Nisker auf der Bühne | (c) Foto: Avanti Media Fiction/IFB 2024 |
Philipp Fussenegger und Judy Landkammer haben die Arbeit zu verantworten. Sie folgen Peaches bei den Vorbereitungen und während ihrer Jubiläumstour zum 20-jährigen Jubiläum ihres Albums „Teaches of Peaches“, zugleich erzählen sie über ihren Aufstieg zu einer modernen Ikone der unabhängigen Populärmusik.
Was will dieser Film eigentlich?
Und genau hier liegt vielleicht das eigentliche Problem: Sie können sich nicht entscheiden, welchen Zweck, welches Ziel dieser Film haben soll. Soll es eine Konzertdokumentation sein? Eine biografische Erzählung? Ein Porträt? Oder ein Abtauchen in den künstlerischen Schaffungsprozess, der mit dem Schreiben und Aufnehmen von Musik nicht endet. Ganz im Gegenteil, wenn es um die Erarbeitung eines Stücks für die Bühne geht, fängt die eigentliche Arbeit erst an.
Seine faszinierendsten Minuten hat TEACHES OF PEACHES dann auch, wenn die Kamera Merrill Beth Nisker und ihrer kleinen Crew beim Arbeitsprozess weit vor dem Tourbeginn zuschaut. Was soll auf der Bühne passieren? Wie soll es passieren? Wie lässt sich das Publikum adressieren? Wir sehen, wie sie die Show in einem Studio Stück für Stück einstudieren. Es ist ein heller, mittelgroßer Raum, keine stickige Konzerthalle. Die Atmosphäre ist konzentriert und zugleich warm und – liebevoll?
Es gibt in diesen Sequenzen der Proben und Konzertvorbereitungen einen besonders magischen Moment, wenn Peaches ihre wesentlich jüngere Gitarristin dazu ermuntert, das Publikum aktiv zu adressieren und mit ihm zu spielen. Es zu teasen und zu verführen. Und ihr dabei konkret ein paar Ideen vorstellt, wie sie das anstellen kann.
Mediokres Irgendwas
In diesen wenigen Sekunden schwingt viel mit von der Erfahrung, die Merrill Beth Nisker in weit über 20 Jahren gesammelt hat. Sie weiß um die Kunst der Performance wie vielleicht nur wenige Musiker:innen ihrer Zeit. Eine Gitarristin kann deshalb nicht einfach nur links oder rechts neben der Sängerin stehen und sich hinter ihren Gitarrensaiten verstecken. Sie muss zentraler Teil dieses Organismus sein, wenn er abends auf der Bühne zum Leben erwachen soll.
Doch der Weg bis zu diesem Moment ist Arbeit, ist an sich ein harter, aber zugleich ungemein spannender und inspirierender künstlerischer Prozess, bei dem Musiker:innen, Techniker:innen, Stylist:innen und viele mehr als Kollektiv zusammenwirken müssen. Diesen Prozess noch mehr verständlich zu machen, ihn zu ergründen, ihm vielleicht die gesamten 102 Minuten Laufzeit zu widmen, hätte aus TEACHES OF PEACHES eine großartige Arbeit gemacht. Leider wählten Fussenegger und Landkammer den Weg ins Gewöhnliche.
Merrill Beth Nisker vor dem Betreten der Bühne | (c) Foto: Avanti Media Fiction/IFB 2024 |
Archivmaterial, Talking Heads und Konzertmaterial werden zusammengeworfen. Prominente Weggefährten, Band- und Teammitglieder sagen freundliche Oneliner in die Kamera, zwischendurch kommt die Künstlerin selbst zu Wort und fungiert gleichermaßen als Stichwortgeberin wie Erzählerin ihrer eigenen Geschichte.
Die Konventionalität der dokumentarischen Erzählung wie der visuellen Gestaltung ist genauso ermüdend wie rundweg ärgerlich. Im Stoff hinter dieser Arbeit versteckt sich so viel Potenzial, allein Philipp Fussenegger und Judy Landkammer wollten oder konnten es nicht erkennen. Sie verschenken es für ein mediokres Irgendwas, dessen Schicksal als ein vergessenes One-Hit-Wonder der Arte-Mediathek nicht überraschend wäre.
TEACHES OF PEACHES – je länger man darüber nachdenkt, desto schmerzhafter wird dieser Film dann doch. Time to „Fuck the Pain Away“.
▪︎ Berlinale Panorama
20. Februar 2024, 14.32 Uhr: MUBI Edeltrash
Das Kernproblem von JANET PLANET und BETWEEN THE TEMPLE liegt darin, dass sie sich viel zu sehr in ihrer schlichten Existenz auf der Leinwand und dabei in ihrer Form gefallen.
Julianne Nicholson, Zoe Ziegler in JANET PLANET | (c) Foto: A24/IFB 2024 |
Grobkörniger Analogfilm, viel Spielerei mit Licht, mit Schnitten und Quadragen, während die Storys einfach keine Funken schlagen. Sie bleiben papieren, unterkühlt, blutlos. Man sieht schönste Flächen, aber hat alles sofort vergessen, sobald das Saallicht angeht.
Das ist kein Kino, nur Rohfilmverschwendung, die am Ende als Edeltrash auf MUBI verramscht werden wird.
▪︎ Berlinale Panorama
19. Februar 2024, 19.00 Uhr: Linkes Scheitern
OASIS erzählt schnörkellos und direkt vom Aufstieg und Fall der linken Verfassungsbewegung in Chile zwischen 2019 und 2022.
Formal angelegt als zügige Montage von Bewegtbildern aus allen Phasen des Versuchs, eine progressive neue Verfassung für Chile Realität werden zu lassen und die alte Verfassung der Pinochet-Diktatur endlich zu ersetzen, führt das MAFI-Kollektiv, bestehend aus über einem Dutzend Filmemacher:innen, dabei indirekt auch den Beweis, dass Verfassungsreferenden nur in der Mitte gewonnen werden können.
80 harte, aber lehrreiche Minuten für linke Zukunftsträume.
▪︎ Berlinale Forum
19. Februar 2024, 16.58 Uhr: Martins Mentor
Martin Scorsese satte 131 Minuten dabei zuzuschauen, wie er einen vom Film erzählt, klingt für sich genommen erstmal nicht unbedingt spannend – es sei denn, Mensch ist ein Martin-Scorsese-Nerd.
Aber MADE IN ENGLAND: THE FILMS OF POWELL AND PRESSBURGER von David Hinton mit Martin Scorsese erweist sich als verblüffend informativ und lädt ein, mit Michael Powell und Emeric Pressburger zwei nahezu vergessene britische Filmemacher und ihre außergewöhnlichen Filme zu entdecken. (Looking at you, Berlinale Retrospektive.)
Denn Scorsese beschreibt nicht nur im Detail, wie einzigartig die Filme dieses Filmemacher-Duos zu ihrer Zeit waren und irgendwie auch bis heute sind. Er gibt ebenso sehr persönlichen Einblick, wie ihn diese Arbeiten und vor allem Michael Powell als eine Art Mentor geprägt haben. Kurz gesagt: In jedem Scorsese-Film steckt immer auch sehr viel Powell & Pressburger.
▪︎ Berlinale Special
19. Februar 2024, 14.29 Uhr: Fell
SASQUATCH SUNSET ist das vielleicht seltsamste Stück Film, dass ich in langer Zeit gesehen habe. Und es ist ungemein faszinierend. Darüber zu schreiben ohne zu spoilern, ist jedoch unmöglich.
Ausschnitt aus dem einzigen verfügbaren Filmstill von SASQUATCH SUNSET | (c) Bild: Sasquatch Sunset/IFB 2024 |
Deshalb sei es mal so formuliert, diesen Film nicht zu sehen, wäre ein Fehler. Es sind 80 auf wundersame Art lebensverändernde Minuten, die die Zellner Brothers da auf die Leinwand packen.
▪︎ Berlinale Special
19. Februar 2024, 10.02 Uhr: Ficken
Ist Dag Johan Haugeruds SEX jetzt eigentlich ein progressiver(er) Film?
Oder ist es pure Regression, wie zwei heterosexuelle Schornsteinfeger und Familienväter darüber ins Straucheln geraten, dass ihnen etwas widerfährt, das nicht zur sexuellen Identität des 100%-Hetero-Manns passt? Ich meine, das ist alles wirklich sehr schön gefilmt und gespielt und so. Aber irgendwie – überzeugend ist etwas Anderes.
▪︎ Berlinale Panorama
18. Februar 2024, 17:04 Uhr: In die Fresse
Filmemacherin Rose Glass hat ihren Tarantino gut studiert, ohne sich davon aber allzu sehr die Richtung vorgeben zu lassen, im Gegenteil. Genrekonventionen und genretypische visuelle Topoi sind dazu da, sie in Stücke zu hauen und daraus etwas Neues zu schaffen.
Herausgekommen ist mit LOVE LIES BLEEDING ein sehr unterhaltsamer Genrecocktail, der virtuos und lustvoll Elemente von Rache-, Revanche- und Vater-Tochter-Story um eine schweißtreibende lesbische Liebesgeschichte irgendwo in New Mexico kreisen lässt, garniert mit etwas Splatter.
LOVE LIES BLEEDING: Katy O’Brian, Kristen Stewart | (c) Foto: Anna Kooris/IFB 2024 |
Kristen Stewart und Katy O’Brian geben hier ein gleichermaßen schimmerndes wie erfrischend triebiges Paar, dessen Liebe so irre ist wie die nie um einen Plottwist verlegene Geschichte, in die sie sich Stück für Stück hineinmanövrieren. Ed Harris mimt derweil einen psychotischen wie kreuzgefährlichen Mafiaboss und Vater mit einer Lust am Overacting, die ebenso einfach großartig anzuschauen ist und vom Camp nicht mehr weit entfernt scheint.
LOVE LIES BLEEDING ist kein Werk für penistragende Genrepuristen mit einem Toxische-Männlichkeit-Komplex. Für alle anderen indes die vielleicht kurzweiligsten und coolsten 104 Minuten Film seit Längerem.
▪︎ Berlinale Special
18. Februar 2024, 13.39 Uhr: Ratlos
INTERCEPTED hinterlässt einen sprachlos, was wohl Absicht ist. Aber man bleibt auch einigermaßen ratlos zurück.
Was bezweckt Oksana Karpovych mir ihrem Film? Wer die eigene Empathie nicht komplett ins Klo gespült hat, wird wenig Verwendung für diese visuell aufgebrezelte Erinnerung an die Abscheulichkeit von Putins Krieg haben. Und Putin-Freunde sind bis über die Ohren mit Propagande bewaffnet, die hören keine Wahrheit mehr. Was bleibt, ist seltsam unterhaltsames Dräuen auf der Tonspur, während die Kamera durchs Kriegsgebiet fährt.
▪︎ Berlinale Forum
18. Februar 2024, 08.00 Uhr: Favoriten
Für Ruth-Beckermann-Verhältnisse wirkt FAVORITEN visuell und inszenatorisch eher schlicht. Trotzdem ist es faszinierend zu sehen, wie sie es selbst mithilfe einer Grundschulklasse aus einem Wiener Arbeiterbezirk schafft, die österreichische Gesellschaft über Dinge zum Sprechen zu bringen, die sie lieber nicht besprechen würde. Und nicht nur nebenbei wirft sie dabei ein Schlaglicht auf die miesen Zustände im Bildungswesen, die vor allem jene treffen, die sich am wenigsten dagegen wehren können, aber die meiste Unterstützung bräuchten. Zwischen Wien und Berlin passt diesbezüglich kein Blatt.
▪︎ Berlinale Encounters
17. Februar 2024, 11.39 Uhr: Das Ding names Nähe
Manchmal müssen sich offenkundig unmögliche Paarungen erst gegenseitig aufdrängen, um zu merken, wie sehr sie sich eigentlich guttun.
Misa und Takatoshi begegnen einander, weil sie in derselben Firma arbeiten, einem kleinen Betrieb, der wissenschaftliche Werkzeuge für Grundschulen herstellt – darunter auch kleine Astronomie-Sets.
Auf den ersten Blick scheinen die beiden jungen Menschen nicht wirklich miteinander zu können. Misa ist eine sehr fürsorgliche, freundliche und aufmerksame Kollegin. Takatoshi ist das Gegenteil, ein in sich gekehrter, eigentlich abweisender Typ in Anzug und Krawatte, der so gar nicht in diese etwas trutschige kleine Firma zu passen scheint. Und der möglichst wenig mit den anderen zu tun haben möchte, schon gar nicht mit der so aufdringlichen Misa – was diese freundliche junge Frau plötzlich dazu bringt, ihn anzubrüllen. Wo kam das jetzt her?
Misa und Takatoshi.
Was beide nicht voneinander wissen: Sie haben gesundheitliche Störungen, die ihr Leben zuweilen zur Qual machen. Sie wird allmonatlich von äußerst heftigen Auswirkungen des prämenstruellen Syndroms gequält, welche sie emotional völlig unberechenbar und zuweilen lethargisch machen. Er hat eine Panikstörung, die seinen Alltag in eine endlose Abfolge von Vermeidungsstrategien verwandelt.
Yoake no subete: Takatoshi und Misa | (c) Foto: Maiko Seo/All the Long Nights Film Partners/IFB 2024 |
Es ist dann auch solch eine Panikattacke Takatoshis während der Arbeit, die Misa aufhorchen lässt. Verzweifelt sucht er in diesem Moment seine Beruhigungspillen, zum Glück findet Misa die kleine Tablettenverpackung unter einem Schrank. Und sie erkennt diese Tabletten, auch sie hatte sie von ihrem Arzt einst gegen Ihre Leiden verschrieben bekommen – und es bereut, sie zu nehmen, denn die Nebenwirkungen, plötzliche Schläfrigkeit, zwangen sie als junge Berufseinsteigerin einst, ihren neuen Job gleich wieder aufzugeben. Sie war auf der Arbeit beim Schlafen erwischt worden.
Da ist also etwas los, und Misa will wissen, was. Mit einem erstaunlichen Maß an Beharrlichkeit geht sie der Sache nach, und Takatoshi gibt ihrem schier unentrinnbaren Angebot von Hilfe schließlich nach, gleichwohl ihr Umgang miteinander erstmal ziemlich kurios und gezwungen wirkt. Doch irgendwie gerät dann doch etwas in Bewegung und die beiden kommen sich näher. YOAKE NO SUBETE
Nähe.
Was ist das eigentlich, dieses Ding namens Nähe? Was bedeutet das für uns? Was macht es mit uns? Warum leiden Kinder, wenn sie keine Nähe ihrer Eltern spüren dürfen? Warum verzehren wir uns als Singles oft danach? Und warum sind wir paradoxerweise der Nähe auch schnell mal überdrüssig und fühlen uns von ihr eingeengt, gerade in Partnerschaften?
Nähe ist ein gleichermaßen körperliches wie emotionales Grundbedürfnis und tief in uns eingeschrieben. Doch genauso ist es auch extrem paradox und komplex. Nicht selten bauen wir dicke Panzerungen um uns auf, um keine Nähe zuzulassen, denn Nähe zu geben und zu empfangen, scheint auch ein Akt voller Gefahren zu sein.
Doch wenn wir so gar keine Nähe empfangen oder geben (können), gehen wir nicht selten ein wie Zimmerpflanzen ohne Wasser. Ein langsames Siechtum, gleichsam wie bei einem langsam wirkenden Gift, sterben wir daran irgendwann. Und niemand will ohne die Nähe eines anderen Menschen sterben. Jedenfalls stellen wir uns das so vor und finden die Vorstellung schrecklich, wenn ein Mensch ganz allein sterben musste – ohne Nähe.
YOAKE NO SUBETE von Filmemacher Shô Miyake ist eine Auseinandersetzung mit Nähe und ihrer Macht, Menschen zu transformieren, auch über zwischenmenschliche Widerstände hinweg. Doch nicht nur Misa und Takatoshi haben hier ihre ganz persönlichen Lasten durch den Alltag zu schleppen. Ihr Chef ist Teilnehmer einer Selbsthilfegruppe für Suizid-Hinterbliebene. Alle in dieser Gruppe hatten enge Familienmitglieder, die ihrem Leben ein Ende setzten – allein.
Jetzt sitzt die Gruppe in einem Kreis zusammen und sucht in der Nähe der Anderen, um diese Tat zu verstehen und zu lernen, damit zu leben. Eine Gruppe eigentlich Fremder, denen die gegenseitige Nähe im Gespräch aber hilft, wieder Fuß zu fassen. Man tut sich gegenseitig gut.
Sterne.
Eines der neuesten Produkte der kleinen Firma soll ein aufblasbares Planetarium werden, das man einfach in einer Schulaula oder Sporthalle aufblasen und darin dann Astronomiestunden geben kann. Es ist an Misa und Takatoshi, dafür die wissenschaftliche Erzählung zu entwickeln. Nur kommen sie mit ihrem Skript nicht so wirklich weiter. Es fehlt etwas, eine zündende Idee, die über die reine Wissenschaft hinausgeht. Was sie noch nicht wissen: In der Garage der Firma lagert, was sie brauchen – endlose Stunden Tonbandaufzeichnungen von Astronomiestunden mit Kindern, kleine Planetenmodelle, zahllose Tagebücher und Notizen. Nur: Es darf eigentlich niemand der Mitarbeitenden wirklich in diese Garage. Dort geht nur der Chef hinein.
Es ist Takatoshi, der schließlich versteht, was hier los ist, als er eines Abends nach Büroschluss in die Arbeit zurückkehrt, um eine vergessene Sache zu holen. Er findet seinen Chef noch im Büro vor, allein und ein Gebet vor einem kleinen Porträtfoto zwischen Akten vorbereitend: Das Foto zeigt seinen Bruder, mit dem er einst die Firma gründete und der sich vor einiger Zeit das Leben nahm. Takatoshi steigt in diese kleine Zeremonie einfach mit ein, füllt das kleine Glas Reiswein, das symbolisch als Gabe an den Toten gereicht wird. Und hält zusammen mit seinem Chef Andacht. Nur ein kleiner Akt der Nähe, der aber neue Wege öffnet – auch zur Garage und damit in gewisser Weise zum Sternenhimmel.
Es sind diese wunderschönen und berührenden kleinen Motive wie dieses, mit denen Shô Miyake seine Geschichte erzählt. Die große Emotion kommt höchstens mal zum Tragen, wenn Misa ausrastet, aber diese Explosionen werden weniger, auch dank der Unterstützung von Takatoshi. Und er wiederum gewinnt dank ihr die Kraft zurück, sich seinen Angstmomenten wenigstens zu stellen. Die große Heilung, die Erlösung vom Leiden, findet in den 199 Minuten von YOAKE NO SUBETE nicht statt.
Warum auch? Dinge ändern sich nicht von jetzt auf gleich, auch wenn Filmgeschichten die Neigung haben, anderes zu behaupten und Menschenschicksale aller Art gerne mal mikrowellieren. Shô Miyake entwickelt seine Geschichte dagegen faszinierend entspannt und mit großer Ruhe.
Safe Space.
Ein Großteil der Handlung spielt in geschlossenen und kleinen Räumen, meist in dem kleinen Büro der Firma oder den Wohnungen von Misa und Takatoshi. Auch die Kamera wagt selten den großen Bildausschnitt. Es bleibt alles eher nah und durchzogen von Geborgenheit – dabei aber trotzdem ungemein kinoaffin in den Bildern.
Yoake no subete: Takatoshi und Misa | (c) Foto: Maiko Seo/All the Long Nights Film Partners/IFB 2024 |
Ein Kammerspiel ist YOAKE NO SUBETE nein, dessen Hermetik, die gerne auch mal klaustrophobisch wird, ist diesem Film fremd. Vielmehr kreiert Shô Miyake Safe Spaces für seine Figuren. Es sind Orte, an denen sie Schutz finden vor den Zumutungen der modernen japanischen Gesellschaft, aber ebenso sind es Räume, in denen sie in der Nähe von anderen Menschen aufblühen und wieder einen Tritt finden können in Leben, die ihnen eben noch zu entgleiten schienen.
Dieser Film ist kein Liebesfilm. Niemand ist hier jemandes Love Interest. Aber es ist trotzdem eine Liebeserklärung – an dieses machtvolle Ding namens Nähe. Das uns in den unmöglichsten Momenten und Konstellationen begegnen und helfen kann, wenn wir es am nötigsten brauchen. Und das Großartige an Nähe ist – sie ist immer da, überall. Wie die Sterne. Wir müssen sie nur sehen – wollen. Was für ein im besten Sinne bezaubernder Film.
16. Februar 2024, 23.10 Uhr: Gestrüpp
Das Glück von LA HOJARASCA ist, dass irgendwann während der Dreharbeiten ein Vulkan auf Gran Canaria ausbrach und fortan Kamera und Mikro in seinen Bann zog. Andernfalls wäre diese dokumentarische Annäherung an ein Trio alter Geschwister und ihren Krampf mit einem riesigen, verwunschenen Stück Land auf der Insel vollends daran verunglückt, dass die Filmemacherin keinen brauchbaren Zugang zum Stoff zu entwickeln vermag, genauso wenig wie sie es schafft, Bilder dafür zu finden. Verschenkt.
▪︎ Berlinale Forum
16. Februar 2024, 21.03 Uhr: Erdmännchen bei Cherson
Jura unterwegs für die Gerechtigkeit, oder so | (c) Foto: Moon Man Filmproduction/IFB 2024 |
In seinen schlechteren Momenten gerinnt Roman Bondarchuks Film zu einer zähen, klamottigen und enervierend zynischen Farce, die in den satten 126 Minuten Laufzeit vor allem mit ihrem fehlenden Timing nervt. Nur wenig zündet hier. Man versteht die Skurrilität und den Sarkasmus, aber es ist eher ein trocken-analytisches Verstehen denn ein Räsonieren im Bauch. Mehr Präzision und ein schärferes Redigat des Scripts hätten diesen im Ansatz sehr spannenden Film gerettet.
▪︎ Berlinale Forum
15. Februar 2024, 23.45 Uhr: Mariette, Carlo, Claudia und Tricia
Rückblickend betrachtet war es vielleicht einfach zu ideal, um eine längere Zukunft zu haben: Eine versierte Fachfrau der Filmwirtschaft und ein renommierter Filmjournalist und Festivalmacher führen zusammen eines der wichtigsten Festivals im internationalen Festivalkalender. Im Frühjahr 2019 übernahmen Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian von Dieter Kosslick eine recht biedere, programmtechnisch aufgeblähte Veranstaltung namens Berlinale, die mit der vorgeblichen Prämisse des politischen Filmfestivals enervierend selbstgenügsam wurde und die sinkende Qualität auf der Leinwand dafür scheinbar gerne in Kauf nahm.
Ehrlicherweise muss man sagen, Chatrian und Rissenbeek hatten im Grunde nur ein Jahr, um eine eigene Erzählung für eine Berlinale unter ihrer Verantwortung zu entwickeln – dann schlug die Pandemie zu, und alle Zukunftspläne waren faktisch Makulatur.
Rissenbeek und Chatrian bei der Vortellung ihres letzten gemeinsamen Programms 2024 | (c) Foto: Dirk Michael Deckbar/Berlinale 2024 |
In der Folge reihten sich zwei Jahrgänge aneinander, die mit Ausnahmezustand freundlich beschrieben sind. Filmisch gleichwohl trotz der widrigen Umstände bedeutend spannender als vieles in den „Wir machen Festival als trutschige Kücheneckbankzusammenkunft“-Ausgaben unter Kosslick. Was aber auch an einigen überfälligen Personalveränderungen in den zentralen Sektionen Panorama und Forum lag.
Nach der Pandemie: Krise statt Normalzustand
Erst 2023 kehrte in die Berlinale wieder so etwas wie ein Normalzustand ein – zumindest was Pandemie-Prävention betraf. Wirtschaftlich schlug die Pandemie dafür weiter voll durch und zeigte sich im zunehmenden Mangel an Sponsoren. Sponsorengelder finanzieren wesentlich mehr als nur immer irrwitzigere Modelle von Berlinale-Taschen im Pseudo-Öko-Chic. Diese Geldmittel tragen bedeutend dazu bei, dass ein Festival dieser Größe finanziell und organisatorisch leistbar wird – vor allem, wenn die Bundesrepublik als Veranstalterin die Grundfinanzierung eher prekär gestaltet.
Mit dem Regierungswechsel und dem Ausscheiden von Monika Grütters kam eine Ministerin ins Amt, deren Ruf als kenntnisreiche Fachfrau und große Wertschätzerin der Filmkunst wie der Filmwirtschaft inexistent ist – Claudia Roth.
Grütters Meriten lagen freilich auch eher woanders, aber sie hatte sich insbesondere im Herbst ihrer Amtszeit zumindest eine Spur von Ansehen als ehrliche Brokerin für das Festival erarbeitet, nicht zuletzt war ihr die Abschaffung des unsäglichen Intendantenmodells à la Kosslick zu verdanken. Auch berief sie mit Chatrian einen künstlerischen Leiter, der den Begriff Filmkunst inhaltlich wirklich zu füllen vermochte. Alles Geschichte.
Einmalig. Hochnotpeinlich. Claudia.
In einem geradezu vor Missachtung triefenden Prozess stellte Claudia Roth 2023 Chatrian de facto den Stuhl vor die Tür und zog damit den Groll von in der Filmwelt nicht gänzlich unbekannten Menschen wie Martin Scorsese auf sich. Ein einmaliger und hochnotpeinlicher Vorgang.
Rissenbeek hatte schon vorher bekundet, aufzuhören. Vorgeblich, um ihren Ruhestand endlich beginnen zu können, wahrscheinlich dürfte die finanziell problematische Situation des Festivals zu Rissenbeeks Entscheidung beigetragen haben. Sponsoren-Elend, steigende Kosten und eine Veranstalterin, welche sich enorm schwer damit tut, dem Festival eine berechenbare und auskömmliche Finanzierung bereitzustellen. Warum sollte man sich so etwas antun?
Der Festivaljahrgang 2023 war schon nur noch dank zusätzlicher finanzieller Mittel aus dem Fördertopf „Neustart Kultur“ in einer halbwegs pre-pandemischen Form möglich. Für 2024 ist dieses Geld nicht mehr verfügbar, während die Kosten weiter gestiegen sind. Das brachte selbst Claudia Roth zu der Erkenntnis, dass sie irgendetwas unternehmen musste, und so mobilisierte sie zwei zusätzliche Millionen Euro aus ihrem Etat – ein kleines Pflaster für eine große finanzielle Wunde. Eine echte Wundheilung? Nicht in Sicht. In der Konsequenz schafften Rissenbeek und Chatrian gleich zwei Sektionen ab und desavouierten bei der Gelegenheit gleich die just ins Amt berufene neue Sektionsleiterin für die nun abgeschaffte Perspektive Deutsches Kino, Jenny Zylka.
Mit 233 Filmen im offiziellen Programm rangiert die Festivalausgabe 2024 nur knapp vor der ersten Pandemieausgabe in Präsenz – 229 Filme liefen im Nur-50%-Auslastung-Festivaljahrgang 2022. Lediglich die digitale „Industrieausgabe“ 2021 hatte noch weniger Filme im Programm.
Welche Relevanz hat das noch?
Um nicht falsch verstanden zu werden: Niemand, schon gar nicht der Autor dieser Zeilen, wünscht sich die Kosslick’schen Exzesse mit über 430 Filmen im Programm zurück. Weniger Masse, mehr Klasse, mehr Konzentration war für die Berlinale dringend erforderlich, und Chatrian/Rissenbeek haben genau hier manches geschafft und einige Verdienste errungen.
Zahlen bitte: Entwicklung der Menge der Filme im offiziellen Berlinale-Programm seit 2013 | Grafik: filmanzeiger |
Aber wenn die Zahl der Programmeinträge nun plötzlich erheblich schrumpft und gleichzeitig die Zahl der Einreichungen wächst (über 8.000 für 2024), stellt sich am Ende eben doch die Frage, ob die überschaubare Auswahl noch ausreicht, um einen halbwegs brauchbaren Eindruck vom Status quo filmkünstlerischen Schaffens im Frühjahr eines Filmjahres zu vermitteln. In anderen Worten: Welche Relevanz hat das noch, was wir jetzt im Programm vorfinden?
Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian kann es jetzt eigentlich egal sein (auch wenn es ihnen wahrscheinlich nicht egal sein wird). Sie durchleben die letzten Tage und Wochen ihrer Arbeitsverträge mit der Bundesrepublik Deutschland. Sie müssen nun gute Miene spielen und am Roten Teppich für schöne Fotomomente sorgen.
Ihre Nachfolgerin ist es, die sich schon jetzt schon sorgen sollte. Und sie darf sich diese Sorgen quasi allein machen, denn dank Claudia Roth ist Tricia Tuttle die neue alleinige Intendantin, und die Berlinale kehrt ab April 2024 zurück ins Intendantenmodell à la Kosslick, de Hadeln und Co.
Rückschritt als Fortschritt – die Dialektik der Claudia R.
Tricia Tuttles Sorgenliste
Zu Tuttles Sorgenliste gehört neben der wirtschaftlichen Krise eine weitere Verschlimmerung der Kinosituation. Das Siechtum des Gewerbegebiets Potsdamer Platz setzt sich Ende 2024 fort, wenn Kino Arsenal, Kinemathek und DFFB das sog. Filmhaus verlassen.
Das Arsenal wird dann bis zur Fertigstellung seines neuen Quartiers in Wedding heimatlos sein, und das Forum wie auch der European Film Market somit eine weitere Spielstätte verlieren. Sicher ist ebenso, dass auch das Kino International, eine der wichtigsten (und größten Spielstätten) des Festivals, fehlen wird. Es schließt für eine Grundsanierung und dürfte wohl erst irgendwann 2026 wieder öffnen.
Die Zukunft des Centers im Gewerbegebiet, laut Werbebanner auch mit irgendwas mit Kino – irgendwann | (c) Foto: filmanzeiger |
Angeblich soll im ehemaligen Sony-Center wieder ein Kino entstehen, dort fand sich mit dem Cinestar bis 2019 eine der wichtigsten Spielstätten des Festivals. Doch ob dann (irgendwann) im selben Umfang wie früher Platz zur Verfügung steht – unklar. Beschaut man sich, was aus der ehemals ebenfalls zentralen Spielstätte CinemaxX am Potsdamer Platz geworden ist, sind Zweifel angebracht: Während einer mehrjährigen Sanierung sind dort nahezu alle Kinosäle de facto kastriert und teilweise um die Hälfte ihrer Plätze reduziert worden.
Zum Finden verdammt
Die neue Chefin des größten Publikumsfilmfestivals der Welt steht also vor gleich drei riesigen Suchbewegungen: Sie muss Filme finden (oder Leute, die Filme finden), die das endlich wieder steigende filmkünstlerische Niveau der Berlinale weiter heben. Sie muss neue Kinos finden, um die Identität des Publikumsfestivals Berlinale weiterhin mit Leben füllen zu können. Und sie muss Geld finden, um das alles zu bezahlen. Im Grunde ein unmöglicher Job, den Tricia Tuttle im April antreten wird.
Immerhin: Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Claudia Roth zur Berlinale 2026 nicht mehr als Kulturstaatsministerin dient. Aber wird Tricia Tuttle dann noch Intendantin sein? Oder wirft sie Claudia Roth die Brocken vorher wieder vor die Füße?