„Porno ist total Dada!“

Rundgang durch das
6. Pornfilmfestival Berlin 2011

Wo liegen die Schnittstellen zwischen dem visuellen Erleben von vielgestaltiger Sexualität, (Film-)Kunst und gesellschaftlichen Fragestellungen? Die Kuratoren des Pornfilmfestival Berlin blieben sich treu und regten ihr Publikum auch im sechsten Jahrgang mittels 118 Kurz- und Lang-, Spiel- und Dokumentar-, Animations- und Experimentalfilmen zur Suche nach Antworten an. Zudem rundeten Performances, Workshops, Diskussionen und Kunstausstellungen das Programm an den traditionell letzten vier Oktobertagen ab.

Courtney Trouble: ROULETTE TORONTO

Hervorstechend war die klare quantitative und qualitative Präsenz lesbischer Filmemacherinnen im Festival. Danielle Sipple und Elizabeth Weisbrot eröffneten die Kurzfilmrolle zum lesbischen Porno mit einem intensiven Stück, in welchem eine junge Frau, die Masturbations-Fantasie der Fixierung in einer Zwangsjacke durchlebt. TOOTH & NAIL hieß der dynamische und sieben Minuten kurze Film, in welchem die Regisseurinnen ihre Darstellerin Dylan Ryan in einen annähernd destruktiven Strudel eigener sexueller Vorstellungen schickten. Eine ähnliche Dynamik, wenn auch nicht destruktiv, sondern vielmehr sinnlich, entfaltete der Kurzfilm ALPHAFEMMES. Ein lesbisches Paar, in seinen körperlichen Typen höchst kontrastierend, entwickelt ein vordergründiges SM-Spiel von Unterwerfung und Dominanz zu einer fleischlich satten Session. Die Filmemacherin Anna Devia baute in den 23 Minuten ihres Films ein reizvolles Spannungsverhältnis zwischen dem innigen Sex der beiden Frauen und der Location auf.

Fetische waren in diesem Jahre ein prägendes Thema der Auseinandersetzung lesbischer Filmemacherinnen mit ihrem Sex. Julie Simone stellt eine 13-minütige Masturbationsfantasie aus Latex vor: In LATEX DREAMS wird für eine Frau, eingehüllt in das Material, die eigene Traumvorstellung unversehens zur sehr greif- und fühlbaren Realität. Auffallend ist an diesem Film die Arbeit mit Ton. Julie Simone überbrückt die nichtvorhandene Haptik des 2-D-Bilds durch eine Klangspur, die selbst kleinsten Details Aufmerksamkeit schenkt.

Betsy Kalin: CHAINED!  | (c) Bild: PFFB 2011

Der sexuellen Metaebene nahm sich Betsy Kalin in ihrer sympathischen Kurzdokumentation CHAINED! an. Die Kette an Portemonnaie oder Schlüssel wurde über die Jahrzehnte durch die Dyke-Bewegung in den USA zu einem geradezu unverzichtbaren Detail im persönlichen, auch sexuellen Erscheinungsbild vieler lesbischer Frauen. Heute, so lernen wir in CHAINED!, sind diese Ketten integrale Facetten lesbischer Identitäten und die Entscheidung, welche Form von Kette man wie und an welcher Körperseite trägt grundsätzlich.

Grundsätzliche Fragen

Fragen nach der sexuellen Selbstdefinition verhandelt auch die lesbische Filmemacherin und Pornodarstellerin Courtney Trouble, einer der vielen Stammgäste des Festivals. Ihr kurzer Essay WHAT MAKES US QUEER? ging genau dieser Frage nach. Dabei zeigte sich einmal mehr: Die klassischen Geschlechternarrative, auch im nicht-heterosexuellen Kontext, sind ein Korsett, das stetig hinterfragt sein will. Der neueste pornografische Langspielfilm der in San Francisco ansässigen Filmemacherin, ROULETTE TORONTO, entpuppte sich derweil als satter und energiegeladener Streifen, der sein Festivalpublikum sichtlich begeisterte. Die Standards für Pornos werden heute ganz klar von Filmemacherinnen wie Courtney Trouble definiert.

Todd Verow: BOTTOM X | (c) Bild: PFFB 2011

Wo verlaufen die Grenzen zwischen Perversion und Selbstzerstörung, zwischen Fetisch und sportlichem Eifer? Todd Verows Dokumentarfilm BOTTOM X verhandelte diese Transiträume am Beispiel eines schwulen Bloggers aus New York. Dieser hat sich in seinem Sexualleben völlig auf die Füllung seines Arsches mit Sperma fokussiert. Todd Verow begleitete ihn, teils mit versteckter Kamera und unter Einsatz starker Verfremdungseffekte, auf seiner regelechten Jagd nach der nächsten Ladung Ejakulat. 20, 30, 40 Füllungen an einem Wochenende von wahllosen Männern. Persönliche Ziele werden aufgestellt, nur mit der Absicht sie so schnell als möglich zu übertreffen. Manisch, frappierend reflektiert und nüchtern akribisch hält Todd Verows anonymer Protagonist seine Erlebnisse im Blog fest. BOTTOM X taucht tief in die Matrix des sog. Bareback-Sex schwuler Männer ein und wirft dabei Fragen auf, die allenfalls mit großem Abstand von moralischen und verurteilenden Grundhaltungen eine Antwort finden können. Nicht zu Unrecht wurde BOTTOM X dafür im Festival als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet. Was die Kuratoren auch als Bestätigung sehen dürfen, dass es richtig ist, filmischen Auseinandersetzungen mit Kondomfreiem schwulen Sex breiten Raum im Programm einzuräumen.

"Çürük", das türkische Wort für faulig oder auch behindert, bekommen jungen Türken zu hören die versuchen, aufgrund ihrer Homosexualität eine Ausmusterung vom Wehrdienst zu erreichen. Sich Ausmustern zu lassen endet jedoch schnell in einem hochnotpeinlichen Prozess der medizinischen Examination. Am Ende steht zwar die Befreiung vom Militär, zuvor wurden aber grundlegende Menschenrechte von höchsten staatlichen Stellen mit Füssen getreten. Und das Individuum als sexuell gestört klassifiziert. Ulrike Böhnischs Dokumentation ÇÜRÜK: THE PINK REPORT zeigte deutlich, welch problematische Stellung das Militär in der Türkei immer noch einnimmt. Handwerklich auf den Punkt, hinterließ der aufrüttelnde Film einen beklemmenden Eindruck von den Zuständen innerhalb der heutigen türkischen Gesellschaft. ÇÜRÜK: THE PINK REPORT dokumentierte aber ebenso erste spürbare Zeichen einer Gegenwehr.

David Moran: THE MARQUIS OF BNEI BRAK | (c) Bild: PFFB 2011 

Von einem Aufbruch ist der Übersetzer Michael Frenkel weit entfernt. Der 67-jährige Israeli erwartet nicht mehr viel. Was ihn antreibt, ist die Suche nach Gesellschaft, insbesondere sexueller Natur. Nackt wartet er auf seinem Bett darauf, dass Männer zum verabredeten Sexdate erscheinen, die wohl nie kommen werden. David Morans mittellange Dokumentation THE MARQUIS OF BNEI BRAK näherte sich diesem störrischen Charakter mit offener Neugierde. Doch gab sich Michael Frenkel keineswegs damit zufrieden nur das Objekt des Films zu sein, vielmehr bezog er das Drehteam in seinen Alltag und seine Gedanken ein. Alt & schwul - eine Konstellation, die wenig Beachtung im queeren Filmschaffen dieser Tage findet. Umso wertvoller ist deshalb das Kurzfilmprogramm „Old Gay Desire“. Neben THE MARQUIS OF BNEI BRAK war mit dem einfühlsamen dokumentarischen Porträt I, RONI TAL ein weiterer israelischer Beitrag zu sehen. Der 78-jährige Roni Tal erzählt der Kamera, wie er zu seinem Coming-out als Siebzehnjähriger kam, wie er jenen Mann kennenlernte, mit dem er über 40 Jahre zusammenlebte und was er heute aus seinen sexuellen Begierden macht: „Sex in diesem Alter ist unwichtig“, sagt er mit einem milden Lächeln. Der bolivianische Beitrag SAUNA SECRETO beobachtete derweil zwei ältere Männer wie sie Sex in der Sauna haben, und vermittelte in seinen nur 7 Minuten Laufzeit merklich viel Lebensfreude.

 Joanna Rytel: GANG BANG BARBIE  | (c) Bild: PFFB 2011

Alleinstellungsmerkmale

Den Preis für den besten Kurzfilm gewann der skurrile schwedische Beitrag GANG BANG BARBIE, in dem die Regisseurin und Protagonistin Joanna Rytel das Puppenspiel völlig uminterpretierte und eine Gruppe Barbies zum „Gang Bang“ eines echten Penis antrieb. Der Berliner Filmemacher R.P. Kahl, im letzten Jahr mit dem Spielfilm BEDWAYS zu Gast, stellte den Kurzfilm MIRIAM vor, der sich als reizvolles Perspektivenspiel erwies. Der in London ansässige Fotograf, Filmemacher und Tänzer Anton Z. Risan gestaltete diesmal zwei Kurzfilme: Das erotisch aufgeladene Musikvideo GREEDY EYES. Und das Werk AZRAEL, in dem er eine Tanzperformance, schwulen Bareback-Sex und Berliner Stadtlandschaften zu einem sinnlichen Bilderrausch kompilierte. Antonio Da Silva brachte die Einfachheit schwuler Sexdates im Internetzeitalter mit seinem schnell geschnittenen Essay MATES auf den Punkt. Und rief die frappierende Ähnlichkeit von Mensch und Tier im schlaglichtartigen Streifen ANMIMALS zurück ins Gedächtnis. Regie-Enfant terrible Bruce LaBruce legte das Musikvideo REVOLVING DOOR vor, in welchem er seinem aktuellen Stilmix aus Sex und viel Filmblut frönte. Das polnische Kollektiv „Inside Flesh“ brachte mit POSSESSIONS den 5. Teil seines gleichnamigen Filmzyklus ins Programm, in dem die Gruppe Kunst, Sex und Fetisch auf ausdrucksstarke Weise miteinander vereinte. In der skurrilen Berliner Farce STUFFED machen sich zwei Männer zusammen mit einer künstlichen Vagina über einen ausgestopften Fuchs her. Aus Großbritannien stammte der gewinnende Animationskurzfilm LITTLE DEATHS, in welchem die Regisseurin Ruth Lingford mittels O-Tönen und Visualisierungen über den Orgasmus an sich nachdachte. „Filtig“, eine griechische Künstlergruppe, schaffte ein besonderes Sinnbild für den Begriff der „Hühnerbrust“ und dekonstruierte ihn sogleich: FILETISIERUNG. Die schier unüberschaubare Vielfalt an Kurzfilmen ist der ganze Schatz des Berliner Pornfilmfestivals und hat sich zu einem seiner wichtigsten Alleinstellungsmerkmale entwickelt.

Anton Z. Risan: AZRAEL | (c) Bild: PFFB 2011

Mit dem Spielfilm UNCLE DAVID bewiesen die Kuratoren des Pornfilmfestivals erneut ihre Qualitäten als Festivalmacher und öffneten ihr Programm für filmische Grenzgänge: David ist Ende vierzig, sein Begleiter Ashley Anfang zwanzig. David bildet in der Anmutung eines Quentin Crisp einen erheblichen Kontrast zur anziehend jungenhaften Männlichkeit Ashleys. Beide Männer verbindet eine innige Beziehung, deren Konstellation bis zuletzt nicht genau decodierbar ist; Kunde und Sexworker, Onkel und Neffe, Mentor und Zögling oder einfach nur zwei Liebende? Sie haben sich auf einen Trailerpark an der frühherbstlichen englischen Küste zurückgezogen. David monologisiert ausgelassen über den Sinn des Lebens und über das Transzendieren in andere Aggregatzustände der Existenz – gerade vor dem Hintergrund einer hetero-normativen, spießigen Gesellschaft. Ashley hängt an seinen Lippen. Schleichend kippt der poetische Film in Bereiche des Thrillers, offenbart den abgründigen Kern der Beziehung von David & Ashley. Eingefangen in geradezu traumwandlerischen Bildern, erzählt das Regietrio David Hoyle, Mike Nicholls & Gary Reich eine tragikomische, anziehende, schließlich restlos verstörende Geschichte, deren mannigfaltigen Triebkräften man sich kaum entziehen kann: UNCLE DAVID ist ein absoluter Solitär und ein Ereignis des nicht-heterosexuellen Kinos, wie man es selbst im „Panorama“ der Berlinale schon lange nicht mehr erleben konnte. Die Festivaljury wählte ihn zum besten Spielfilm im diesjährigen Programm.

David Hoyle und Ashley Ryder in UNCLE DAVID | (c) Bild: Peccadillo Pictures

In den nächsten Jahren wird es spannend zu beobachten sein, wie die Festivalmacher mit dem wachsenden Erfolg umgehen und ob sie der zwiespältigen Versuchung einer weiteren Popularisierung nachgeben. Absehbar ist wohl, dass sich das Festival rein örtlich vergrößern muss, denn das kleine und legendäre Kino Moviemento stieß in diesem Jahr fühlbar an seine Kapazitätsgrenzen. Angesichts von Langspielfilmen wie THE FAMILY COMPLETE, STRAPPED, INDIETRO, THE ORGASM DIARIES, UNCLE DAVID oder auch THE TERRORISTS bestätigte der Jahrgang 2011 erneut, dass das Pornfilmfestival, neben der Berlinale, zur wichtigsten Filmschau Berlins geworden ist. Und hinterließ auch noch ein rundum euphorisches, angeregtes Publikum.