Utopie vs. Kapitalismus

THE SPIRIT OF '45
Berlinale_Special

Die Berlinale verzeichnet in fast allen Sektionen Bewegungs-Dokus. Dokumentarische Arbeiten, die uns  Zuschauer aktivieren oder zumindest agitieren wollen, damit wir uns irgendeiner Sache anschließen oder zumindest den Standpunkt dafür einnehmen. Der Gutmensch als Zielgruppe. In der Mehrzahl der Fälle, gehen diese Filme furchtbar schief, denn die Filmemacher unterschätzen ihr Publikum und versuchen es auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner anzusprechen. Andere ignorieren jeglichen formalen Anspruch und die Anforderungen des Mediums Kino. Häufig mixt sich beides zu einer unerfreulichen Farce. Wie man es anders und besser machen kann, beweist Ken Loach in seinem neuen Werk THE SPIRIT OF '45.

THE SPIRIT OF 45' | (c) BBC
THE SPIRIT OF '45 | (c) BBC/Berlinale 2013

Zusammen mit dem Britisch Film Institute und der BBC, zeichnet Loach den Kampf um die Begründung des britischen Sozialstaats nach 1945 nach. Er greift auf faszinierendes historisches Filmmaterial aller Dekaden zurück und schneidet es mit eigenen Interviews von Augenzeugen bzw. deren Kindern gegen. Kriegsbedingte Massenarmut und Massenarbeitslosigkeit, Ausbeutung der Arbeiter, sowie akuter Mangel an allen öffentlichen Gütern, bringen der damals noch sozialistisch geprägten Labour-Party 1945 einen Erdrutsch-Wahlsieg und beenden die Ära des konservativen Premierministers Winston Churchill. Sein Nachfolger, Clement Attlee, setzt anschließend eine vollkommen neue, sozialistisch geprägte Politik um. In deren Folge werden alle zentralen Institutionen der Versorgung, Transport und Industrie verstaatlicht oder reguliert. Arbeiter bekommen faire Löhne und Arbeitsbedingungen, ein nationales Gesundheitssystem wird etabliert, um grassierende Armutserkrankungen in den Griff zu bekommen. Ein gigantisches Hausbau-Programm schafft Tausende neuer Wohnungen für Familien und beendet die slumartigen Zustände in vielen britischen Städten. Ein beispielloser Boom und ein weitreichender gesellschaftlicher Wohlstand sind das Ergebnis. Eine Utopie wird Realität - ausgerechnet im Mutterland des Kapitalismus.

Ken Loach hört hier nicht auf. Er fragt sich, ob diese Utopie heute noch Bestand hat bzw. ob sie wiederauferstehen oder neu entwickelt werden kann. Er geht deutlich mit der Ära Thatcher ins Gericht, unter deren Führung der britische Wohlfahrtsstaat fast vollständig reprivatisiert wurde. Mit altbekannten Folgen und einer Zerrüttung der Gesellschaft, die bis heute spürbar ist. Das fatalistische Ist-jetzt-eben-so macht sich Loach nicht zu eigen. Er lässt erneut die Alten sprechen. Wir erleben eine Generation auf der Kinoleinwand, die kein Stück altersmüde geworden ist. Anstatt ihren Nachfahren zur Last zu fallen, sehen sie es als ihre Pflicht an, den jungen Briten bei ihrem Kampf für eine bessere Zukunft zu helfen. Die Utopie lebt. Und Ken Loach macht deutlich, dass Groß Britannien diese Utopie schon einmal erfolgreich zum Leben erweckt hat. Es ist alles eine Frage des Zusammenhalts. THE SPIRIT OF '45 - eine Bewegungs-Doku im klassischen Sinn, die ein aufgerütteltes, enthusiastisches Publikum aus dem Kino entlässt. Schade, dass das Festival diesen Film ausgerechnet in der unterbelichteten Sondersektion Berlinale Special ablaufen lässt.

THE SPIRIT OF '45
Dokumentation
Großbritannien 2013
94 Minuten
DCP, Schwarzweiß & Farbe
Regie: Ken Loach
Recherche: Izzy Charman
Filmarchivar: Jim Anderson
Kamera: Steve Standen
Schnitt: Jonathan Morris
Musik George Fenton
Produzentinnen: Rebecca o‘Brien,
Kate Ogborn, Lisa Marie Russo