Irrelevanter Anti-Drifter
OSLO, 31. AUGUST
Es beginnt mit 16mm-Foundfootage - Stadtansichten Oslos aus der Vergangenheit. Im Off erzählen Menschen von ihrer ersten Begegnung mit der Stadt. Faszinierend, lebendig, aber auch überraschend klein empfanden sie Norwegens Hauptstadt. Damals. Die Montage kulminiert in den Videoaufnahmen der Sprengung eines markanten Hochhauses. Schnitt. Er. Er sitzt nackt auf einem Bett, gebeugt, der Kopf stützt sich fast auf die Hände. Er wirkt Gedanken-verloren und allein. Die Kamera lässt eine Frau neben ihm erkennen, sie erwacht aus dem Schlaf, nackt. Sie lächelt ihn kurz an und lässt dann das Lächeln versiegen. Schnitt. Er geht aus dem, was ein Motel an der Autobahn gewesen sein muss und läuft in den nahen Wald. Ziellos scheint er zu sein und kommt dann doch an einem See an. Er zieht seine Jacke aus, zieht sie wieder an, stopft Steine in die Jackentaschen, hebt einen größeren Stein aus dem Uferbereich, geht ins Wasser, taucht ab. Für eine Weile verharrt die Kamera auf der Stelle seines Untergangs. Luftblasen steigen vereinzelt auf. Schließlich ein lautes Prusten, das eher einem hysterischen Weinen gleicht. Er kriecht ans Ufer und torkelt zurück in den Wald. Anders.
OSLO, 31. AUGUST - einen Tag zuvor darf Anders, ein attraktiver, schlaksiger junger Mann Anfang 30, auf Freigang. Die letzten Monate hat er in einer Klinik für Drogenabhängige verbracht, weit außerhalb. Anders ist oder war Junkie. Er hat alles durch inklusive Heroin. Heute ist er clean. Seit 10 Monaten hat er nicht mal mehr ein Bier getrunken. Sein erster Ausflug führt in zurück nach Oslo. Ein Bewerbungsgespräch steht an. Anders war mal freier Schreiber. Doch das ist sechs Jahre her. Dann verlor er sich in den Clubs von Oslo und in den Drogen. Dies ist auch beinahe alles, was wir über Anders lernen. Es gab das Leben vor dem Entzug. Und es gibt heute, diesen einen Tag. Vorher gab es ein mutmaßlich wildes Leben, eine große, an den Drogen gescheiterte Liebe. Und ein liberales, gut situiertes Elternhaus, dass an den Spätfolgen von Anders Absturz zu leiden scheint. Aber auch das können wir nur aus einigen Indizien lesen, die uns das Drehbuch, auf Anders' Weg durch ein spätsommerliches Oslo, hier und dort reicht. Nicht selten erscheint OSLO, 31. AUGUST wie eine Forterzählung von Joachim Triers 2006er Debüt REPRISE. Nicht nur, ob desselben großartigen Hauptdarstellers. In REPRISE, erleben wir zwei angehende Schriftsteller bei ihrem Streben nach einem Platz im Leben und in der Liebe. Ebenfalls angesiedelt im Oslo der Gegenwart, hat sich die verspielte Energie von Film und Figuren in REPRISE zu ernsthaften Selbstzweifeln und Depression in OSLO, 31. AUGUST gewandelt. Die beiden Jungs sind zu Männern geworden. Und einer von beiden ist irgendwann abgestürzt.
Anders ist ein Drifter. Solche Figuren sind in Kinofilmen nichts Neues, sie gehören beinahe zum Inventar der Filmgeschichte. Und diese Figuren wissen um ihr Dasein. Sie sind Outcasts und sie machen daraus eine Tugend. Zu diesen Figuren ist Anders eine Art Antithese. Wenn man so will, ein Anti-Drifter. Er will Teil der Gesellschaft sein, oder hatte dieses Verlangen zumindest an einem früheren Punkt in seinem Leben. Nur hat man ihm das verwehrt. Daran zerbricht er. Vielleicht ist er auch schon vor langer Zeit daran zerbrochen. An diesem Punkt ist alles nur noch Deutung. Und genau das ist eine der herausragenden Stärken von Joachim Triers OSLO, 31. AUGUST. Diese Geschichte bzw. ihre Figuren glotzen uns nicht wie Marionetten aus dem Drehbuch heraus an. Sie sind lebendig, sie sind abgründig. Lesbar und unlesbar im selben Moment. Hat Anders' Schicksal lange vor den Drogen seinen Lauf genommen? Brachte ihn die Erkenntnis, nie dazugehören zu werden, an die Nadel? Selbsterkenntnis als Trigger. Vielleicht waren die Drogen sein Mittel, um herauszufinden, was er längst vermutet hatte. Dass die Gesellschaft, dieses Ding namens soziales Netz nichts weiter als eine Illusion und Täuschung ist. Eigentlich bestehen unsere Gesellschaften aus unendlicher Leere. Und sind unsere Existenzen innerhalb und außerhalb dieser sogenannten Gesellschaften vollkommen irrelevant.
Um dieses Dasein wissen wir ebenfalls, das haben wir mit den Driftern, mit den Outcasts gemein. Doch wir machen daraus keine Tugend. Stattdessen stopfen wir unser Leben mit Unmengen an behaupteter Bedeutung zu. So, wie es eine furiose Montage im Zentrum des Films nahelegt: Anders sitzt allein in einem belebten Café. Um ihn herum alle möglichen Arten von Menschen. Mütter-Gruppen und ihre Babys, alte Frauen beim Kaffee, diskutierende Paare, kichernde Teenager, Freunde, die sich seicht-romantischen Müll über ihre Vorstellungen vom Leben aus dem Internet vorlesen. All diese Stimmfetzen rauschen durch Anders' Kopf, bis er es nicht mehr aushält. Eilig verlässt er das Café und im gleichen Moment erstirbt das große Rauschen darin. Anders trifft eine andere Entscheidung als all diese Existenzen im Café und auf den Straßen. Später im Film werden wir ihn begleiten, wenn er sich ein sattes Gramm Koks besorgt. Genug für einen letzten Schuss.
Anders Entschluss erscheint uns ab diesem Moment irritierend legitim und verstörend folgerichtig. Doch warum eigentlich? Warum verstört uns diese Konsequenz und radikale Ehrlichkeit? Die Hoffnung auf Hoffnung ist für diesen Mann kein erstrebenswertes Ziel (mehr). Ist das dumm? Ist das feige? Nein, es ist mutig. Dieser Anders, von dem es außerhalb des Kinos also "in unseren Gesellschaften" definitiv Unzählige gibt, verdient Respekt. Diese Lektion wirkt, wie auch der gesamte Film, lange nach.
OSLO, 31. AUGUST
NOR 2011
96 Minuten
DCP - Farbe
Regie: Joachim Trier
Buch: Eskil Vogt, Joachim Trier, basierend auf dem Roman "Le feu follet" von Pierre Drieu La Rochelle
Kamera: Jakob Ihre
Schnitt: Olivier Bugge Coutte
Musik: Torgny Amdam, Ola Fløttum
Produzenten: Therese Naustdal, Hans-Jørgen Osnes, Yngve Sæther
Darsteller: Anders Danielsen Lie, Hans Olav Brenner, Ingrid Olava, Kjærsti Odden Skjeldal
Festivals: Cannes 2011 - Un Certain Regard, Toronto 2011
(c) Bildmaterial: Peripher Filmverleih 2013