Aufputschmittel
FUNNY GAMES U.S.
1997, ein Film kommt in die Kinos, der in knapp zwei Stunden die gezielte und sinnentleerte Hinrichtung einer Familie zeigt: Vater, Mutter, Kind – die Urzelle der Gesellschaft. Dahingerafft von zwei spitzbübischen, jungen Männern, die sich in ihren adretten Golfer-Outfits und ihrer charmanten Ausdrucksweise zuerst als Angehörige derselben Klasse ausgeben, wodurch die Schutzmechanismen der wohlhabenden Mittelschichtsfamilie erst Alarm schlagen, als es kein Entkommen mehr geben kann.
2008, ein Film kommt in die US-Kinos, der in knapp zwei Stunden die gezielte und sinnentleerte Hinrichtung einer Familie zeigt: Vater, Mutter, Kind – die Urzelle der Gesellschaft. Ein Film gleicht dem Anderen beinahe passgenau: Handlung, Dialoge, Kameraeinstellungen und Schnitte. Lediglich die Darsteller und das Setting sind amerikanisiert. Zwischen beiden Filmen liegen elf Jahre:
Was soll das?!
1997 sollte FUNNY GAMES seinem Zuschauer „seine Rolle“ bewusst machen: Die Rolle des Konsumenten von Gewalt. So wurde Regisseur Michael Haneke damals zitiert - und verrissen. Zu didaktisch, zu moralisierend, von oben herab, oberlehrerhaft sei das, was er dort tut. Dabei benutzte Haneke lediglich seinen Film als Mittel zum Zweck: das Stellen einer einfachen Frage: Was soll das?
Warum gucken wir uns im Film Gewaltdarstellungen an, finden darin vielleicht sogar Unterhaltungswert?
Berechtigt ist diese Frage allemal. Hanekes „Fehler“ war es, sie unbeantwortet zu lassen. Wer solche Fragen aufwirft, hat gefälligst auch Antworten hinterher zu liefern, so schien damals der Tenor zu sein. Erlaubt sei hierzu aber eine andere Frage: Kann ein Regisseur, kann (s)ein Film auf diese Frage überhaupt Antwort geben? Wären beide, der Urheber und das Werk nicht vollständig überfordert mit der Beantwortung?
Nicht nur ob der schier endlosen Antwortmöglichkeiten, nämlich jenen, die der einzelne Zuschauer sich sowieso schon gegeben hat (sofern er sich damit überhaupt beschäftigt). Sondern auch und vor allem, weil Werk und Urheber der „Stein des Anstoßes“ sind.
Verantwortung. Ein Regisseur trägt Verantwortung, für unzählige Dinge ist er verantwortlich: Für seine Darsteller, für die Umsetzung der Geschichte, für die Auswahl des Teams, für sein Drehverhältnis, oft auch fürs Budget und natürlich fürs Gelingen des Films. Für seine Zuschauer auch?
Ich für meinen Teil (als Cineast, Kritiker und nicht zuletzt Zuschauer) sage: Natürlich nicht!
Ist es nicht so, dass ein Regisseur dem Zuschauer immer nur ein Angebot macht: Ich fülle neunzig Minuten ihrer Lebenszeit mit einer, mit meiner Geschichte - über einen Mann der mit Pferden spricht, über zwei schwule Cowboys, über eine Romanze auf einem sinkenden Schiff, über eine Familie, die das Ende des Films nicht erleben wird. Sie entscheiden selbst, ob sie mein Angebot annehmen. Oder doch lieber eine andere Geschichte, die des Kollegen im Saal nebenan, anschauen. Die Kinokarte kauft jeder Zuschauer selbst, aber im Kartenpreis war die vorgekaute Welthaltung und Meinung nicht inklusive.
Haneke weist den Vorwurf des Moralisierens nicht von sich, das Gegenteil ist der Fall: „Ich will dem Publikum an den Karren fahren.“ (Welt-Online, 29. Mai 2008) Und meint mit Publikum vor allem die Konsumenten von Horror- und Folter-Filmen, vornehmlich aus den USA. FUNNY GAMES U.S. - der Zweck - soll, in seiner Überzeichnung von Gewalt, Bewusstsein schaffen bei denen, die Gewaltdarstellungen quasi als Unterhaltung für sich entdeckt haben.
Und die Kassenerfolge der letzten Splatter-Film-Welle (HOSTEL, SAW, HILLS HAVE EYES etc.) scheinen Hanekes Ansinnen geradezu zu unterstreichen (wenngleich diese Filme ihre Renaissance den Orten Abu Ghuraib und Guantanamo zu verdanken haben). Der Kassenerfolg von FUNNY GAMES U.S. im Kino und im DVD-Regal wird zeigen, ob dieses Ansinnen fruchtet. Aber auch hier kommt diese ungreifbare, gespenstische Ambivalenz von Hanekes Vorhaben wieder zum tragen: Hat Haneke einen Erfolg für seine Sache erzielt, wenn die Besucher- und Verkaufszahlen hoch sind? Oder wenn sie niedrig sind? Sind die Zahlen überhaupt von Bedeutung? Ist der Umstand, dass ein Film, eine Intention, ein Zweck wie FUNNY GAMES U.S. überhaupt in US-Kinos läuft nicht schon ein Erfolg – für Haneke?
So oder so, man kann es Haneke kaum hoch genug anrechnen, dass er, wie kaum jemand sonst im aktuellen Kino, sein Medium immer wieder hinterfragt und vor allem dessen Konsumenten mit ihrer eigenen Position konfrontiert. Mehr noch, er nötigt sie beinahe, sich mit sich selbst und ihrem Dasein als Zuschauer auseinander zu setzen und Farbe zu bekennen. Das ist alles andere als Mainstream, das ist beinahe ein Tabubruch - in einer Zeit, in der scheinbar alles auf Unterhaltung gebürstet wird. Das Kino des Michael Haneke, ein Aderlass für die Sehgewohnheiten, ein intellektuelles Aufputschmittel - ruhig gestellt werden Sie im Saal nebenan.
FUNNY GAMES U.S.
USA/AT/F/GB 2007
112 Min.
35mm, Farbe
Regie: Michael Haneke