"This is London Calling!"

JOE STRUMMER - THE FUTURE IS UNWRITTEN

Ein Film transportiert wie kaum ein zweites Medium Stimmungen, Gefühle, Gedanken. Er beflügelt den Geist in einer unvergleichlichen Weise. Macht ihn ebenso betroffen wie euphorisch. Geht kritisch mit uns ins Gericht und bietet uns Gedankenerweiterung, wenn wir selber nicht mehr weiter wissen. Oder lenkt uns ab, wenn uns die Probleme über den Kopf wachsen. Wenn bewegtes Bild und Klang bzw. Musik zusammentreffen, sind Psychologen überflüssig. Der schwarze Raum, der uns an die Leinwand fesselt, das Kino, reicht völlig.

Musik hat eine ähnliche Wirkung. Ihr Vorteil gegenüber dem Film jedoch ist die bessere Verfügbarkeit. Zumindest heutzutage, wo mp3-Player - wahlweise mit oder ohne Mobiltelefon - die Musikbibliothek der Menschen allzeit verfügbar machen. Früher gab es dafür Walkman oder Reiseplattenspieler. Und vor deren massenhafter Verbreitung hatte das Radio diese Funktion inne - bevor es zur bloßen Rotationsabspielstätte verkommen ist. In jener Zeit, als Musik noch von Plattenspielern und Radios dominiert wurde, begann der junge Graham Mellor, sich ernsthaft für Musik zu interessieren. Eigentlich schien er - eher halbherzig - Comiczeichner zu werden, bis ihm Musik begegnete. Der Rest ist Geschichte, oder wohl eher Legende. Die Legende Joe Strummer.

Julien Temple zeichnet ein freundschaftlich-einfühlsames Porträt des mittlerweile zur Ikone stilisierten Musikers Joe Strummer - jenseits aller Legendensprechung. Was ihm nicht hoch genug anzurechnen ist. Der 2002 verstorbene Strummer gilt mit seiner Band The Clash als einer der Wegbereiter des Punkrock, obwohl The Clash innerhalb der Szene oft für ihre Experimentierfreudigkeit und ihre ungewöhnlichen, alle Genres durchschreitenden Arrangements attackiert wurden. Wie so vieles im Musikbusiness, gingen auch The Clash schlussendlich den Weg in den Tod durch Kommerzialisierung. Doch ihre Musik hat auch Jahrzehnte später nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, wirkt heute noch auffallend erfrischend. Bindet Generationen später Menschen an die Lippen Joe Strummers. Julien Temple begibt sich auf Spurensuche nach den Wurzeln dieses Phänomens. Zeitzeugen, allen voran die noch lebenden Bandmitglieder und Strummers Frauen geben bereitwillig ihre Gedanken dazu preis. Zusätzlich hat er einen bunten Reigen von Persönlichkeiten versammelt und sie ihre Gedanken über The Clash, über ihre Musik und über Joe Strummer der Kamera mitteilen lassen. Bono, Johnny Depp, Martin Scorsese und Anthony Kidis sind hier nur einige der Prominentesten. Sie alle sitzen an einem Lagerfeuer, welches vor allem für den alten Strummer von enormer Wichtigkeit war.

So sind die Feuer das verbindende Element des Films: Menschen aller Generationen sitzen an ihnen, spielen Musik und lauschen "Joe Strummers London Calling", der Radiosendung des BBC-Worldservice, die Strummer bis zu seinem Tod wöchentlich moderierte. Die Show zog Millionen an die Radios. Julien Temple nutzt den alten Strummer hier posthum als Erzähler seines eigenen Films. In der Collage mit Interviews, Strummer aus dem Off und vielen alten Fotos, animierten Strummer-Comics und kurzen Filmausschnitten aus alten Familienfilmen der Familie Mellor, lässt Temple das Portrait eines Musikers entstehen, das gleichzeitig Abbild einer ganzen Epoche ist. Das ist das große Verdienst Julien Temples in seinen Filmen. Wie schon in seiner Dokumentation „Glastonbury“ über das gleichnamige legendäre Musikfestival, transportiert er immer mehr mit seinen Filmen als nur die vordergründige Geschichte: Abbilder der Zeit, aufbewahrt für Generationen. Die Musik von The Clash funktioniert ähnlich, denn Strummer und Mick Jones, Kinder ihrer Zeit, brachten mit The Clash stets mehr als nur Musik: Es war Musik, die bildete, die forderte, die Ideale vermittelte, die Zusammenhalt forderte, gegen Rassismus und Unterdrückung kämpfte und kämpft. Die gleichzeitig eine musikalische Vielfalt in sich trägt, welche noch heute die Musikwelt beeinflusst. Denn der Musik der Welt blieb Strummer bis zuletzt treu. 

Am 18. Dezember 2002 starb Joe Strummer an einem angeborenen Herzfehler. Julien Temple setzt Joe Strummer ein filmisches Denkmal, das wohl unverzüglich zu einem Standardwerk der Musikhistorie werden dürfte. Denn bei THE FUTURE IS UNWRITTEN - JOE STRUMMER vereinen sich die beiden wichtigsten Medien, Film und Musik, und starten einen Großangriff auf unseren Geist. Fantastisch!