Furios, schonungslos

HUMAN ZOO





Mehrere Menschen prügeln, so scheint es, aufeinander ein, in einem Hotelzimmer. Zwei Frauen haben blutverschmierte Gesichter, ein Messer blitzt auf - Großaufnahme - Schnitt. Ein Mann tanzt durch die Straßen einer Stadt, springt über Poller und die Häuserwände hoch - Umschnitt auf eine junge Frau, die tütenbepackt und mit verdrießlicher Miene eine Straße entlang geht. Von oben schaut die Kamera zu, wie die beiden an einer Straßenecke zusammenstoßen - Schnitt. Wieder eine Stadt, diesmal als Kampfzone; Leichen liegen auf der Straße, Waffenlärm in der Ferne und erneut betritt eine junge Frau die Szene, in dem sie eine Mauer herunter auf die Straße springt. Sie läuft auf der Straße hektisch hin und her - offenbar orientierungslos. Soldaten kommen um die Ecke gefahren, sie versucht sich zu verstecken und rennt anderen Soldaten direkt in die Arme. Die Männer reden über sie, während sie am Boden kauert. Aus dem Auto richtet einer der Soldaten eine Waffe auf sie und drückt ab. Die Schüsse gehen daneben. Er lacht höhnisch, reicht seine Waffe seinem Fahrer und motzt einen der umstehenden Soldaten an: "Ist das die Art, wie man eine Frau behandelt?!" Der bietet ihr seine Hand zur Hilfe an - Schnitt. Wieder eine Hand, aber zurück in der ersten Stadt. Die junge Frau weist seine Hilfe brüsk zurück, er reagiert verwundert: "Ich wollte ihnen nur helfen und sie nicht gleich ficken.", sprichts in Englisch mit amerikanischem Akzent. Die Kamera geht auf Distanz zur Szenerie, eine Totale mit Informationshappen: "Marseille, heute", verkündet eine Einblendung.

Die Anfangssequenz von HUMAN ZOO: Drei Orte, zu drei unterschiedlichen Zeitpunkten mit immer ein und derselben Frau: Adria! Rie Rasmussens Spielfilmdebüt erzählt ihre Geschichte. Die Geschichte einer jungen Kosovarin, die den Kriegswirren dank eines Samariters entkommen kann. Wer jetzt glaubt, es ginge hier um ein mitfühlendes bis anklagendes Kriegsdrama, der irrt! Bereits der erste Name im Vorspann macht klar, dass dieser Film anders wird: Luc Besson - Produzent. Frankreichs Zampano fürs lautstarke Kino, dessen Action-Franchise TRANSPORTER erst vor Kurzem mit der zweiten Fortsetzung in deutschen Kinos zu sehen war. HUMAN ZOO ist ein harter Ritt. Stetig wechselnde Spielorte, ein Auf und Ab der Geschwindigkeit, unzählige narrative Anspielungen auf alle möglichen Themen. Von französischen Alltagsproblemen, zwischen Migration und brennenden Autos, über Gräueltaten im Kosovo bis zum Machtkampf zwischen Milosevic und Kostunica um Belgrad, inklusive NATO-Bombenhagel. Einzige Konstanten: Adria und der brutale Tod diverser Menschen.

Die Handlung springt zwischen zwei Erzählsträngen hin und her, non-linear: Adria im Marseille von heute und im Belgrad während und nach dem Kosovokonflikt. In Marseille ist sie eine illegale Einwanderin. In Belgrad muss sie sich in der Gegenwart ihres "Retters" Srdjan, einem desertierten, serbischen Soldaten, ständig behaupten. Denn Srdjan arrangiert sich schnell mit dem Chaos, welches das kollabierende Serbien aufwirft, und steigt zu einer Größe im organisierten Verbrechen auf: Waffenhandel, Drogen, Mord. Dabei begleitet ihn Adria, erst eingeschüchtert und eher zwangsweise, dann mehr und mehr aktiv, bis sie schließlich zu seiner loyalsten Kraft wird. Trotz der oft brutalen und blutigen Mittel, derer sich Srdjan bedient und dabei einer ganz eigenen Ethik zu folgen scheint, in welcher ihm persönlich bekannte, serbische Kriegsverbrecher (wie er selber auch einer ist) reihenweise dran glauben müssen. Diesem verrückten Spiel aus Macht, Geld, Mord, Waffenfaszination und neureichem Lebensstil kann sich Adria nicht entziehen.

In Marseille wiederum ist sie eine andere Persönlichkeit. Eine zurückgezogene, schüchterne und betont unauffällige Adria gibt Rie Rasmussen hier. Um keinen Preis auffallen, ist die Devise. Anschluss hat sie lediglich an die Menschenrechtsanwältin Mina und ihre Patchwork-Familie. Und plötzlich knallt Shawn wortwörtlich in ihr Leben.

Halb Serbin, halb Albanerin, halb Christin und halb Muslima: Adria - eine Figur, ein menschliches Gleichnis für den Balkan und seine Zerrissenheit. In all dem absurden Chaos, das der Film stellenweise entfacht, schwingt dieser tragische und nach wie vor hochaktuelle Konflikt stets mit. Rie Rasmussen lässt das nicht bleiern und schwer werden, wie gesagt: Absurdes Chaos. Doch sie setzt immer wieder unmissverständliche Akzente, sei es nur durch die Original-Fernsehbilder protestierender Massen in Belgrad oder der Live-Berichterstattung von der NATO-Bombardierung der Stadt. Die Fernseher laufen in diesem Film ständig - sie sind Berichterstatter, nicht nur für die Figuren. Sondern auch für den Zuschauer über den Film - eine Art Erzähler, der immer dann mit seinem Archivmaterial einspringt, wenn die Geschichte eine weitere Metamorphose durchlebt.

HUMAN ZOO ist ein furioser und schonungsloser Film. Von Gutmenschenkino ist hier weit und breit nichts zu sehen - zum Glück! Dreckig, zynisch, brutal und blutig - sind die Bilder und die Taten. Und hinreißend betörend - immer dann, wenn Rie Rasmussen ihren Figuren eine Bühne bereitet, um sich einen Schritt weiter zu entwickeln. Der Film lebt davon, und er hat irgendwann auch nur noch das. Denn ab einem gewissen Zeitpunkt beschleicht einen das Gefühl, dass die stringente Erzählung aufgehört hat. Dass sich die Geschichte in ihre Einzelteile auflöst und allenfalls noch ein grober Rahmen existiert. Es gibt nur noch dieses Trio, mit dem man allein ist: Mit der wunderschönen, unberechenbaren Adria, dem wahnsinnigen Srdjan und dem spitzbübischen Shawn. Das mag manchem zu wenig und damit zu langweilig sein. Andererseits: Was ist ein Film, eine Geschichte wert, in der die Figuren wie Pappkameraden durch den Film gereicht werden, nur um die Story durcherzählt zu bekommen? Ist es nicht vielmehr so, dass das, was uns fesselt, uns neugierig macht und uns begeistert, die Menschen sind? Human Cinema.


HUMAN ZOO
Frankreich 2008
110 Minuten
Regie: Rie Rasmussen
(Berlinale 2009 - Panorama)