"Your terrible dancin is my problm!"

FISH TANK

Mia ist – aus bürgerlicher Sicht – eine ziemlich extreme Persönlichkeit. Lebt man allerdings in einer Siedlung wie „Mardyke“, einer Sozialsiedlung nahe Essex an der Ostküste Englands, dann ist Mia vollkommen normal. Ihren Vater kennt sie nicht, ihre Mutter kümmert sich vor allem um sich selbst, ihre kleine Schwester nervt. Mia hat die Schule geschmissen, sie prügelt sich mit anderen Mädchen. Ihre Zukunftsaussichten sind düster. Eigentlich eine recht „typische“ Biografie für eine 15-Jährige aus einer englischen Sozialsiedlung. Genauso gut könnte man diese Biografie aber auch nach Deutschland übertragen.

Mia (Katie Jarvis) | (c) Bild: Kool Filmdistribution

Mia, die Hauptfigur in Andrea Arnolds Film FSH TANK prägt die Leinwand: Sie kommt quasi in jeder Szene vor, ist das widersprüchliche Zentrum dieses Films. Andrea Arnold, die auch das Drehbuch zu FISH TANK schrieb, begegnet ihren Zuschauern zunächst auf der Ebene ihrer Erwartungshaltungen: Mia - das Prollmädchen aus dem Sozialsiedlungs-Millieu. Da erwartet man eigentlich alles und bekommt es auch prompt serviert. Doch Andrea Arnold benutzt diese Erwartungen wie eine Tarnung, eine Oberfläche, die zunächst von den Schichten darunter ablenkt.

Unvermittelt steht Mia plötzlich in einer leeren Wohnung, macht ihren CD-Player an. Die Musik übernimmt die Tonspur, die Kamera verfolgt wie Mia verbissen eine Tanz-Choreografie übt. Warmes abendliches Sonnenlicht umgibt Mia dabei, die Szenerie um sie herum wirkt still, Mia ist mit sich und bei sich – so scheint es. Kontrast.

Kontraste durchziehen diesen Film. Verwunderliche und zugleich wundervolle Szenen wechseln sich mit einer rauen (Film-)Wirklichkeit ab. Manchmal scheint es so, als ob das Drehbuch, genauso wie seine Hauptfigur, auszubrechen versucht. Weg aus der Tristesse, aus den vergammelten Häusern und weg von den vergammelten Menschen, die sich selbst überlasen dahin siechen, denen die Menschlichkeit verloren gegangen ist. Mias Geschichte spielt in einer aussichtslosen Welt, einer zynischen Welt. Eine Welt, die suggeriert das alles möglich ist, aber die einen in Wahrheit enden lässt wie einen Fisch im Aquarium: Man sieht die Welt da draußen, aber man schlägt sich den Kopf ein, wenn man dort hin will.

Mit Connor, dem neuen Freund von Mia Mutter scheint dann aber tatsächlich Hoffnung auf eine Normalisierung der Zustände einzukehren. Hoffnung auf ein normales Familienleben. Der Mann hat einen Job, ein Auto, ist ordentlich und sieht gut aus. Mia ist angezogen von ihm. Und er bestärkt sie in ihrer Idee vom Tanzen. Es sieht gut aus, es sieht nach Glück aus, endlich einmal. Aber da war ja noch das mit dem Aquarium.

Diesen Film radikal zu nennen, wäre übertrieben. Die Schilderung der miserablen Lebensbedingungen von Englands Unterschicht ist für das europäische Gegenwartskino längst zu einer Art Gewohnheitsübung geworden. Doch FISH TANK trägt die Handschrift einer Regisseurin, die mit emotionaler Klugheit ihre Geschichte erzählt. Und die das Kino als einzigen Ort zu begreifen scheint, an dem Menschen die Chance haben sich zu verändern, wenigstens für einen Augenblick. Das gilt sowohl für die Menschen auf, als auch vor der Leinwand. Die Bilderwelten von Andrea Arnold tun alles dafür, dass dieses kleine Kinowunder gelingt. Allerdings ist der Regisseurin auch klar, dass sich die Welt vor dem Kino in den 124 Minuten Laufzeit ihres Films nicht großartig wandelt, dementsprechend endet FISH TANK und entlässt sein Publikum wehmütig, gedankenversunken, aber auch begeistert.


FISH TANK
GB/NL 2009
124 Minuten
Regie, Buch: Andrea Arnold
Kamera: Robbie Ryan
Schnitt: Nicolas Chaudeurge
Darsteller: Katie Jarvis (Mia), Rebecca Griffiths (Tyler), Michael Fassbender (Connor), Sydney Mary Nash (Keira), Harry Treadaway (Billy)