Biografie als Altlast

UNTER KONTROLLE

Filmkamera im Zwischenlager: Ein Zwischenlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle,
Forschungszentrums Karlsruhe | © credofilm/Sattel/Stefanescu

Plötzliche und epochemachende Ereignisse der Welt sind für Filmemacher mitunter ein Fluch. Projekte werden zur Makulatur, über Nacht und unvermittelt. Ein Schicksal wie dieses hätte den Filmemacher Volker Sattel ereilen können. Im Forum der Berlinale 2011 stellte er eine beeindruckende Dokumentation vor. UNTER KONTROLLE heißt sie und versucht nichts weniger, als eine filmische Annäherung an das, was der so unbestimmte Begriff Atomkraft eigentlich ist.

Er drehte unter dem Eindruck einer schwelenden Anti-Atom-Debatte in der deutschen Öffentlichkeit. Die amtierende schwarz-gelbe Bundesregierung hatte den Kompromiss über den Atomausstieg aufgekündigt, defakto das Comeback der Atomenergie politisch verordnet. Die Atom-Lobby muss um Transparenz und Öffentlichkeit sehr bemüht gewesen sein, als sie Volker Sattel gestattete mit seiner Kamera in den AKWs zu drehen. Japan. Weit weg. Noch.

Stillgelegte Schalttafel in einem Kontrollraum  | © credofilm/Sattel/Stefanescu

Sattel dringt nicht weniger als in die empfindlichsten Bereiche eines aktiven Atomkraftwerks vor. Kontrollzentrale. Reaktorraum. Brennstäbe. Smaragdblau funkelt das Wasser im Reaktorbehälter. Brennt sich in gestochen scharfen Cinemascope-Bildern sinnbildlich auf die Leinwand. Kontrast und Vervollständigung: Die profanen Orte in einem AKW. Kantine, Werkstatt, Wäscherei. Gelb, so lernt man, ohne dass es einem weiter erklärt werden bräuchte, ist die ultimative Signalfarbe für Strahlung, das gilt auch für Unterhosen.

Mitarbeiter müssen sich nach Dienstende penibel duschen, erst einen Ganzkörperstrahlungsscanner durchqueren, bevor sie sich umziehen können. Volker Sattels Kamera zeigt das alles. Zeigt, wie so ein Ort „Atomkraftwerk“ überhaupt funktioniert. Jenseits einer Theorie, jenseits von medialen Schlagworten wie „Biblis“ oder „Krümmel“.

Sicherheit. Natürlich geht es um dieses Thema. Es ist der Kern des menschlichen Umgangs mit Atomkraft. Wir Menschen versuchen alles, um die Atomtechnik beherrschbar zu machen. Wir glauben, so kann man es in UNTER KONTROLLE sehr gut nachvollziehen, an die Utopie der Beherrschbarkeit. Die Mathematik soll uns dabei recht geben. In UNTER KONTROLLE taucht eine Zahl auf: 10 hoch 7 – das ist das, was die Statistik über die Wahrscheinlichkeit eines fatalen Störfalls vorrechnet. Nach menschlichem Ermessen also unmöglich. Nur, was ist menschliches Ermessen und wo stößt es an seine Grenzen? Im Zweifel für den Zweifel? Volker Sattel, der in seinem minimalistisch gestalteten Werk auf Kommentierung völlig verzichtet, stellt dieses große Fragezeichen indirekt über die Atomkraft.

KKW Gundremmingen - Fahrstuhl zum Reaktorbereich:
Im Bild Revisionsarbeiter in Kantinenkluft. | © credofilm/Sattel/Stefanescu

Dafür braucht es wenig: Er interviewt einen Wissenschaftler des Instituts für Risikoforschung an der Uni Wien. Der Mann sitzt in seinem kleinen, vollgestopften Büro. Ein Raum – schmucklos und zweckmäßig. Nüchtern, aber prägnant spricht der Wissenschaftler seine Ausführungen zur Kamera: Die Behörde, von der alle glauben sie wäre die wichtigste weltweite Kontrollinstanz, ist ein Papiertiger. In der Sequenz zuvor interviewte Volker Sattel einen Verantwortlichen der IAEO über die Aufgaben der Behörde. Der Blick der Kamera schweift zugleich durch die heiligen Hallen der internationalen Atomenergiebehörde. Aktion – Reaktion. Fürsprache – Gegenrede. Behauptung – Demontage. Dieser dramaturgische Rhythmus durchzieht die Dokumentation. Bei aller formalen Zurückhaltung ist UNTER KONTROLLE dann doch sehr deutlich.

KKW Gundremmingen - Über dem offenen Reaktor: Arbeiten am
geöffneten und gefluteten Reaktorkern | © credofilm/Sattel/Stefanescu

Aber was passiert, wenn man ein AKW abschaltet? Was folgt eigentlich nach dem Ausstieg? In der öffentlichen Wahrnehmung kommt diese Frage nicht vor. Ganz anders bei Volker Sattel. Er stellt seine Kamera vor die Abrissruinen der AKWs, die nie zu Atomkraftwerken wurden. Manche sind nur noch Schutt, der mühsam durch Pressluftbagger zerkleinert wird. Andere sind Vergnügungsparks oder Trainingsanlagen. Ihre Hinterlassenschaften werden noch Generationen beschäftigen.

Die wirkliche Altlast, um im Atomsprech zu bleiben, ist nicht der Beton oder der Strahlenmüll, auch wenn Letzterer enorm ist. Das Problem an der Atomtechnik, das lässt sich aus den Bildern in UNTER KONTROLLE klar lesen, ist ihre Utopie. Und der Sog, der in dieser Utopie steckt. Ein utopischer Sog, der ganze Generationen von Wissenschaftlern, Technikern und Arbeitern förmlich verschlungen hat. Auch sie, ihre Biografien sind eine Form von Altlast. Für den Umgang mit ihnen gibt es in der Zukunftsbranche Atom-Abriss keinen Plan. Und auch ein Endlager kann es für sie nicht geben.

Die teuerste Investitionsruine Deutschlands: Der Schnelle Brüter in
Kalkar ist heute ein Vergnügungspark. | © credofilm/Sattel/Stefanescu

Die Biografien des Atomzeitalters - langlebiger als jedes Milisivert Strahlung. Was mit ihnen geschehen soll, darauf haben die fleißigen deutschen Atomaussteiger keine Antwort. Volker Sattels UNTER KONTROLLE ist hier bis zuletzt schonungslos genau und ehrlich. Japan ist tatsächlich weit weg, für diese Dokumentation vollkommen unerheblich. UNTER KONTROLLE steht für sich allein und ist der wohl wichtigste und kritischste Beitrag zu den unzähligen Atom-Debatten in Deutschland.


UNTER KONTROLLE
Deutschland 2010
98 Minuten
35 mm, Cinemascope, Farbe
Buch, Recherche, Regie: Volker Sattel in Zusammenarbeit mit Stefan Stefanescu
Kamera: Volker Sattel
Montage: Stefan Krumbiegel, Volker Sattel
Redaktion: Jutta Krug (WDR), Sabine Rollberg (ARTE)
Tongestaltung: Tim Elzer, Nikolaus Woernle
Produzenten: Susann Schimk, Jörg Trentmann
Verleih: farbfilm verleih

© Bilder: credofilm/Sattel/Stefanescu