Abgrund//Neuanfang
FJELLET - The Mountain
Die erste Begegnung zwischen einem Film und seinem Zuschauer findet vor dem Gang ins Kino statt. Bevor uns ein Film erreichen kann, erreicht uns zuerst Text über das Werk. Einfache Dinge wie eine Inhaltsangabe, eine Synopse oder eine Besprechung. Anhand dieser Texte treffen wir eine Vorentscheidung darüber, ob wir einen Film sehen wollen. Empfehlungen von Bekannten oder ein Trailer beeinflussen unsere Entscheidung für oder gegen das Anschauen zusätzlich. Bis zu diesem Zeitpunkt hat der Film als solches noch keinerlei Chance gehabt, für sich einzunehmen. Sitzt man vor dem Programm eines großen Filmfestivals wie der Berlinale, welches in wenigen Tagen mehrere Hundert Filme zeigt, werden diese Info-Häppchen zum einzigen Kriterium für die eigene Planung.
Auszugsweise hier die ersten drei Sätze aus dem Berlinale-Katalogtext zu „Fjellet – The Mountain“: „Vor zwei Jahren starb Vetle, der fünfjährige Sohn von Nora und Solveig, bei einer Bergtour. Seit dieser Zeit lastet die Trauer über seinen Tod auf ihrer Beziehung. Nora, die leibliche Mutter des Kindes, ist im Schmerz über den Verlust immer bitterer geworden.“ Das Kind eines lesbischen Paares stirbt bei einer gemeinsamen Bergwanderung. Ganz ehrlich: Als schwuler Mann und Cineast, der schwermütigen Dramen wenig abgewinnen kann, hätte ich mich bestimmt nicht für diesen Film entschieden. Als Mitglied einer unabhängigen Jury auf der diesjährigen Berlinale, musste ich den Film sehen. Im Nachhinein sage ich zum Glück. „Fjellet“ startet mit einem Bergpanorama wie aus einer Postkarte. Allerdings bereinigt um die Idylle und angereichert mit etwas Beunruhigendem. Das zweite Bild nimmt eine gelbe Thermosflasche in die Nahaufnahme. Sie liegt im Schnee, wirkt verwittert. Zivilisationsmüll in unberührter, norwegischer Natur. Solveig und Nora, so heißen die beiden Frauen, die im Mittelpunkt dieses Films stehen. Die einzigen sichtbaren Protagonisten, von der umgebenen Natur abgesehen.
Dieser Erzählraum, so weit er auch auf der Leinwand reichen mag, hat etwas Klaustrophobisches. Ein großes Nichts umgibt die Frauen, was wie ein Katalysator wirkt und die Konflikte zwischen Nora und Solveig anheizt. Vieles in dieser Geschichte wird dabei erst nach und nach deutlich. Wir sehen zunächst einfach nur zwei Frauen die wortkarg über die Hochebene wandern.
Sie machen Rast, eine der beiden Frauen will Kaffee kochen. Die andere bemängelt, dass sie zu wenig Kaffee eingepackt hat. Was völlig nebensächlich erscheint, offenbart unvermittelt Spannungen in ihrem Verhältnis zueinander. In „Fjellet“ gibt es einige dieser Momente, in denen vordergründige Kleinigkeiten wesentlich mehr erzählen. Es geht um gegenseitige Entfremdung, um Verlust, um Schuld und Trauer, um die plötzliche Fragilität sicher geglaubter menschlicher Bindungen. Wir folgen diesen Frauen, so abgedroschen das zunächst klingt, auf einer Reise zu sich selbst und zu jenem Ort, der sie zwei Jahre zuvor traumatisierte. In der Filmzeit dauert dieser Trip mehrere Tage. Allein schon das Gespräch über die Dauer ihrer Wanderung reißt die offenbar nur mühsam verschlossenen Wunden wieder auf. „Beim letzten Mal hatten wir einen Fünfjährigen dabei“, sagt Solveig zu Nora. Woraufhin diese in tiefes Schweigen versinkt. Sie scheint unfähig geworden zu sein, auch nur einen Gedanken an den Sohn zu fassen. Der ausdrücklich ihr Kind war, schließlich hat sie ihn doch ausgetragen. Solveig fühlt sich durch diese Ausgrenzung schwer verletzt. Erst recht da sie nun diejenige ist, die ein Kind im Bauch trägt und Angst davor hat, verlassen zu werden. Plötzlich steht diese schwere Frage im Raum: Ist die biologische Mutterschaft mehr wert? Wessen Sohn war Vetle? Unterschwellig droht diese Frage, die von Nora aufgeworfen wurde, ihre langjährige Partnerschaft zu zerstören. Allerdings ist Nora ein Mensch, der einen Verlust erlitten hat und diesen verdrängt, anstatt ihn zu verarbeiten. Solveig glaubt, dass die Konfrontation mit dem Unfallort für sie beide heilsam sein könnte. Ihre Partnerin sucht derweil nach Gründen für einen vorzeitigen Abbruch der Wanderung; stiehlt Essen, stochert mit einem Stock in ihrem Bauch herum.
„Fjellet“ ist mit 73 Minuten ein auffallend kurzer Spielfilm. Dem dabei jedoch das Kunststück gelingt, in dieser Zeit eine erstaunliche Bandbreite an Themen durchscheinen zu lassen. Regisseur Ole Giæver tippt hierbei immer nur an und der Zuschauer ist aufgefordert, den Gedanken in seinem Kopf weiter auszuformen. Dass „Fjellet“ dabei nicht oberflächlich wirkt, verdankt sich auch den herausragenden Hauptdarstellerinnen Ellen Dorrit Petersen und Marte Magnusdotter Solem, die von der Kamera beinahe unbarmherzig in den Fokus genommen werden. Selbstbeschränkung ist eine filmische Tugend, die im nicht-hetreosexuellen Kino mit seiner fatalen Neigung zum Überzeichnen, wenig verbreitet ist. Kleine Blicke und Gesten transportieren oft weit mehr als übervolle Drehbücher und plakative Emotionen. Die zurückgenommene und in sich ruhende Weise, auf die Ole Giæver seinen Film erzählt, fällt daher umso stärker auf. Während der Berlinale dachte ich noch, dass es sich dabei nur um den üblichen Festivaleffekt handelt, der häufig auftritt, wenn man in kurzer Zeit viel zu viele Filme sieht und dementsprechend überreizt ist. Ein halbes Jahr und eine zweite Sichtung später hat „Fjellet“ nichts von seiner Wirkung verloren.
Nichts Abgründiges ist zu sehen, niemand onaniert, pisst, schreit, blutet oder gibt sich seinen multiplen Perversionen hin. Aber trotzdem geht es um Abgründe. Hier haben sich zwei Menschen über ein Unglück entzweit, die eigentlich zusammengehören. Diese Zwei, Solveig & Nora, müssen nicht erst mit ihrer eigenen Sexualität zu Recht kommen und mehrfach zweifeln, ob das, was sie sind, auch wirklich sie repräsentiert. Erwachsene Frauen blicken auf eine langjährige Beziehung zurück, die nun eine schwere Belastungsprobe aushalten muss. Der Ausgang der Geschichte ist offen, das Scheitern der Partnerschaft droht. Aber wenigstens versuchen sie es und wagen sich an diese Zumutung. Ihre Zuschauer nehmen sie dabei mit und man folgt ihnen gerne. Die Jury, deretwegen ich mir „Fjellet“ überhaupt erst angesehen hatte, wählte am Ende eine schwule Coming-out-Romanze für ihren Preis aus. Die lesbischen Mitglieder der Jury sorgten mit ihrer Stimmenmehrheit dafür. Der Gewinnerfilm war in Ordnung, auch ich hatte ihn auf meiner Favoritenliste, allerdings nicht ganz oben. Das war dann doch nur eine Story, wie es sie im nicht-heterosexuellen Kino allzu oft gibt.
Hängt „unser“ Kino längst in einer ewigen Recyclingschleife der immer gleichen Themen fest? So sehr, dass ein stilles, erwachsenes Drama um eine lesbische Beziehung gegen eine schwule Coming-out-Geschichte keine Chance hat? Welche Aussagekraft haben Jurys und deren Filmpreise eigentlich? Zählt letzten Endes nicht allein das Publikum? Bevor diese Zuschauer „Fjellet“ sehen, lesen sie etwas über den Film, vielleicht auch diesen Text. Gehen sie danach ins Kino? Mich treiben diese Fragen um, wesentlich mehr als bei anderen Filmen. Nutzen wir als nicht-heterosexuelle Kinobesucher die Chance und schenken diesem Film unsere Aufmerksamkeit? Ein Werk, welches über alltägliche Geschichten in einer menschlicheren und respektvolleren Weise erzählt, als ein Großteil des queeren Filmschaffens der letzten Jahre. Oder erliegen wir unseren Sehgewohnheiten und Reflexen? Film kann Gesellschaft verändern, das gilt insbesondere im nicht-heterosexuellen Kontext. „Fjellet“ als solitäres Werk ist zu schwach, um eine ganze Bewegung in Gang zu bringen. Aber als Ausdruck einer neuen Erzählhaltung und Beleg einer anderen Herangehensweise an Geschichten aus dem queeren Alltag könnte Ole Giæver mit seinem Film Maßstäbe setzen.
FJELLET - The Mountain
Norwegen 2011
73 Minuten
Format: D-Cinema, Cinemascope, Farbe
Regie, Buch: Ole Giæver
Kamera: Øystein Mamen
Schnitt: Wibecke Rønseth, Astrid Skumsrud Johansen
Ton: Fredric Vogel
Musik: Ola Fløttum
Produzenten: Ole Giæver, Karin Julsrud
Co-Produktion: Fourandahalf, Oslo
Darsteller: Ellen Dorrit Petersen, Marte Magnusdotter Solem
Festivals: BERLINALE - Int. Filmfestspiele Berlin 2011
Der Text ist zuerst erschienen in SISSY - Ausgabe 11, September - Oktober 2011
FJELLET ist im November im Rahmen der L-Filmnacht in ausgewählten Kinos zu sehen und wird durch die EDITION SALZGEBER auf DVD vertrieben.
© Bilder: Edition Salzgeber 2011