Berlinale 2014 - Bulletin (5) - YE - THE NIGHT

YE - THE NIGHT
(Panorama)

YE - THE NIGHT | Zhou Hao | (c) Next Way Studios/Berlinale 2014

Ein junger Mann steht vor einem Badezimmerspiegel, er kontrolliert sein Gesicht auf Makellosigkeit, knöpft sein Hemd zu, zupft es zurecht. Schnitt. Er geht eine kleine Gasse hinab,  die Kamera (es könnte auch eine Handykamera sein) folgt ihm. Wacklige Bilder in Schwarz-Weiß, der funzelige Schein einer Laterne als einzige Lichtquelle.

"Den Blowjob gibts für 100 Yuan (umgerechnet knapp 12€)", sagt der junge Typ in die Kamera. Wir blicken ihn durch die Augen eines Freiers an. "Ich will dir in den Mund spritzen" - "Ok, 50 Yuan (6€) mehr." Die Augen des Freiers folgen ihm auf eine Klappe. YE - The Night, erzählt vom nächtlichen Alltag eines Sexworkers. Wie er wirklich heißt, bleibt unklar. Irgendwann bekommt dieser Einzelgänger aus freiem Willen, einen Spitznamen: "Tuberose" - benannt nach einer Schnittblume (Polianthes tuberosa), die vor allem für ihren lieblichen Duft bekannt ist.

Die Gasse der Einstiegssequenz ist sein Platz, hier trifft er seine Freier und nimmt sie mit - aufs Klo, ins Hotel oder (wenn er Zeit und tatsächlich Lust auf den Freier hat) in den Fluchtgang eines nahegelegenen Autobahntunnels; sein geheimes Paradies aus Beton. Eine junge Prostituierte ("Narzisse") gesellt sich zu ihm oder drängelt sich vielmehr mit in die Gasse. Ihre Geschäfte laufen schlecht, die Männer kommen wegen Tuberose. So auch ein junger Kerl ("Rose"), der nicht so genau weiß, ob er Freier, Stricher oder vielleicht doch eher Liebhaber von Tuberose sein will. Der möchte mit dieser plötzlichen Zuneigung eigentlich gar nichts zu tun haben, doch sein innerer Widerstand bröckelt bald.

YE - THE NIGHT, ist das Langspiel-Debüt des jungen chinesischen Filmstudenten Zhou Hao, der seine Hauptfigur "Tuberose" selbst spielt. Von Studenten einer Medienschule in der chinesischen Großstadt Chongqing realisiert, begeistert dieses Werk auf vielen Ebenen. Die unbeschwerte Selbstverständlichkeit und die Erzählperspektiven verblüffen: Sexworker als selbstbestimmte Charaktere, nicht als Opfer von Ausbeutung oder als vergammelte Gestalten aus der Gosse. In China, wo man SexarbeiterInnen nachwievor in drakonische Umerziehungslager wegsperrt, erscheint das geradezu revolutionär. Allerdings sind solche Perspektiven auch im wohlmeinenden europäischen Kino eher selten. Nicht anders beim freien Umgang mit Sexualitäten: (Schwuler) Sex findet statt, nicht explizit gefilmt, dafür sehr sinnlich und leidenschaftlich.

Tuberose liebt Schlager, vor allem die Werke der Sängerin Teresa Tun aus Taiwan. Der Film ist von ihren Schnulzen durchdrungen, die in blumigsten Metaphern vom Schmerz der Einsamkeit und dem Glück der Liebe erzählen. Die Einsamkeit ist relativ zu sehen. Als kleine Gruppe halten sie zusammen, doch für die Gesellschaft sind sie Ausgestoßene ohne Chance auf eine sittsame Zukunft, wie sie es nennen. Bei aller Verzauberung lässt der Regisseur dann doch die triste Realität stets durchschimmern. Getränkt in das schemenhafte Orange der Straßenbeleuchtung, entwickelt Zhou Hao seinen Film zu einer faszinierend poetischen, zarten Geschichte über die zufällige Freundschaft dreier Einzelgänger an der Schwelle zu einer Ménage à trois. Bei deutschen Nachwuchsfilmern sucht man soviel Wagemut und Poesie seit langem schon vergeblich.

YE - THE NIGHT
VP China 2014
95 Minuten
QuickTime ProRes · Farbe & Schwarz-Weiß
Regie, Buch: Zhou Hao
Kamera: Yang Zhan Wen
Schnitt: Zhou Hao