Berlinale 2014 - Bulletin (6) - SHE'S LOST CONTROL - CASSE - FINDING VIVIAN MEIER - LA MARCHE À SUIVRE

Finding Vivian Meier | John Maloof | (c) Vivian Meier/Maloof | Berlinale 2014
FINDING VIVIAN MEIER | John Maloof | (c) Vivian Meier/Maloof/Berlinale 2014

Es gibt weniger spannende Jobs auf der Welt als den des "Surrogatpartners". Glaubt man Wikipedia, dann besteht die Aufgabe dieser besonderen SexarbeiterInnen darin, Menschen mit einer pathologischen Angst vor menschlicher Nähe und Sexualkontakten zu einem funktionierenden Sexualleben zu verhelfen. Ronah ist so eine Surrogatpartnerin. Sie arbeitet an ihrem Master über Verhaltenspsychologie und dieser Job liefert ihr dafür scheinbar die nötigen Erfahrungen. In enger Absprache mit einem Psychologen, begleitet sie männliche Patienten hin zu einem besseren Sexualleben. New York im Heute: Ronah lebt in einem kleinen, spartanischen Appartment, das sie eigentlich lieber gegen eine Eigentumswohnung tauschen möchte, doch dafür reicht das Geld noch nicht. Und im Prinzip würde sie sich über Kinder freuen, aber dem steht ihr spezieller Job entgegen. Ihre Eizellen lässt sie einfrieren - vorerst. SHE'S LOST CONTROL von Anja Marquardt, berichtet im Folgenden über eine Frau, die sich und ihr Leben perfekt unter Kontrolle zu haben scheint und der dann doch alles entgleitet. Zu ihrem neuen Klienten Johnny dringt sie nur mühsam durch und ob sie wirklich dort angekommen ist wo sie hinwollte, zweifelt Ronah selbst. Doch diese Zweifel wischt sie beiseite, denn etwas an ihm zieht sie mehr an, als es ihr der Berufsethos eigentlich erlaubt. In strengen, minimalistische Bildern entwickelt Marquardt ihr Kammerspiel. Die kühle Atmosphäre, ständig verhüllen Vorhänge ein sowieso schon tristes Großstadtgrau, korrespondiert mit ihrer Hauptfigur. Deren Leben scheint ebenso kühl und zielorientiert zu sein. Sie erlaubt sich keine allzu emotionale Tiefe und bleibt am liebsten für sich allein. Darin unterscheidet sie sich defakto nur graduell von ihren Patienten. Anja Marquardt spitzt ihre unaufgeregt erzählte Geschichte vorsichtig nuanciert zu und lässt erst kurz vor Schluss eine Erruption stattfinden, die den Zuschauer dann wiederum nachhaltig verfolgt, selbst wenn er das Kino schon lange verlassen hat. (Forum)

Jazz-Musik, groovige Jazz-Musik tanzt auf der Tonspur. Die Kamera fährt langsam lange Reihen von Schrott-Austos ab. Dazwischen wuseln die unterschiedlichsten Menschen umher, tragen Werkzeuge und Autoteile mit sich. Diese Einstiegsszene setzt den Ton für CASSE - ein dokumentarisches Portrait der Französin Nadège Trebal. Die Menschen auf diesem Autofriedhof irgendwo in Frankreich, holen aus den Karossen alles heraus, was sie brauchen können. Ob kleine Schrauben, Stoßdämpfer oder ganze Motorblöcke - wenn das Teil noch etwas taugt wird es ausgebaut. Diesen Ort umgibt ein phasenweise meditatives Hintergrundrauschen aus Stimmengewirr, dem Hämmern von Metall, dem Klirren von Werkzeugteilen. Ihren Fokus legt Nadège Trebal auf die Menschen an diesem unwirtlichen Ort: Beiläufig erzählen sich die Besucher gegenseitig oder der Kamera ihre Geschichten. Ein Flüchtling aus Zentralafrika berichtet von seiner Odyssey auf dem Mittelmeer, ein älterer Mann erzählt mit freudestrahlenden Augen über seine kleine Enkelin, um die er sich kümmert während die Mutter versucht als Kassiererin über die Runden zu kommen. "Was wird sein, wenn ich nicht mehr bin?", fragt er sich und sein freudestrahlendes Gesicht gibt, nur für einen Augeblick,  einen Ausdruck großer Besorgnis preis. Ein älterer Mann aus dem Magreb blickt zurück auf seine Anfänge in Frankreich, wie man ihn auf dem Bau ausgebeutet und gedrillt hat, sich nicht zu wagen eine Gewerkschaft aufzusuchen. Auf diesem Schrottplatz schrauben jene, die die weiße französische Gesellschaft - wenn überhaupt - nur als Problem wahrnehmen möchte. Der Filmemacherin scheint das erst Recht Ansporn zu sein, diesen Schicksale und Biografien eine Bühne zu geben. Friedlich gleitet ihre Kamera über den Schrottplatz und nimmt die Menschen immer wieder zärtlich in den Blick. Vereinzelt wenden sich die Menschen der Kamera zu, posieren vor ihr, behaupten sich als Individuen. "Seht her, ihr könnt uns nicht übersehen, wir sind ein Teil dieses Landes." - das ist nur eine Lesart dieser Bilder. Was Nadège Trebal hier wie nebenbei auch aufzeigt, sind die Möglichkeiten des Dokumentarfilms. Die Schönheit formaler Strenge und deutlich wahrnehmbare Positionen fügen sich zu einem begeisternden dokumentarischen Essay zusammen. (Forum)

Stellen Sie sich vor, sie gehen auf eine Auktion für herrenlose Gepäckstücke und ersteigern einen unscheinbaren, abgenutzten Koffer für kleines Geld. Zuhause öffnen sie das gute Stück und finden darin - unzählige Fotos. Keine Urlaubsbilder und Familienportraits, sondern Bilder die ein enormes Talent bezeugen. Sie haben keinen Anhaltspunkt, außer dem  Namen einer toten Fotografin der nirgendwohin führt und den nicht einmal Google kennt. In dieser seltenen Situation fand sich der junge Chicagoer Filmemacher und Historiker John Maloof wieder, als er einen Koffer von Vivian Meier ersteigerte. In der Dokumentation FINDING VIVIAN MEIER erzählt er von seiner Spurensuche über einen vergessenen Menschen. Maloof schildert die Ausmaße seines Schicksalsschlags und breitet in seiner Wohnung dutzende Kisten und Koffer aus, die alle randvoll mit Fotos, Negativen, unentwickelten Filmen und vielem mehr sind. Die Zahl der Fotografien geht in die Tausende, zusätzlich noch über Hundert 8mm-Filme und zahllose Tonbandaufzeichnungen. Es folgen 84 Minuten Dedektivarbeit, die den Filmemacher quer durch die USA und bis nach Frankreich führen. Vivian Meier arbeitete ihr ganzes Leben lang als Kindermädchen. Ihre Fotos schoß sie nebenher mit einem kleinen Rolleiflex-Fotoapparat. Maloof besucht die Kinder dieser Nanny und versucht aus ihren Schilderungen eine Skizze der Person zu fertigen. Das gelingt ihm kaum, denn diese Frau hatte viele widerstreitende Facetten und Gesichter. Wo immer er eine Aussage findet, tut sich woanders ein Statement auf, welches das Gegenteil glaubwürdig schildert. Der Filmemacher tut gut daran, diese Aussagen in ihrem Kontext stehen zu lassen. Er versagt sich letztendlich selbst eine deutliche Einordnung. Im Zweifel für den Zweifel - diese Devise durchzieht FINDING VIVIAN MEIER. Damit eröffnet er seinen Zuschauern die Möglichkeit, sich selbst mit dieser Frau auseinanderzusetzen, die einsam und verwirrt starb. Der Zweifel beschleicht Maloof schließlich auch beim Umgang mit dem Werk der Fotografin. Soll er es unter Verschluss halten, wie es Vivian Meier zeitlebens tat, oder soll er die Fotos der Öffentlichkeit zeigen? Maloof entscheidet sich für die Veröffentlichung und für die posthume Ehrung Vivian Meiers. Der Film zieht vorüber, die Gedanken an eine faszinierende Frau mit vielen Gesichtern bleiben. Und mit ihr die großartigen Fotografien, die problemlos selbst neben einem Henry Cartier-Bresson stehen könnte. John Maloof arbeitet in diesem Kontext eine weitere Merkwürdigkeit heraus: Etablierte Museums-Institutionen weigern sich beharrlich, das Werk Vivian Meiers anzuerkennen. So hat John Maloof auf jener denkwürdigen Auktion nicht nur einen Koffer erworben, sondern auch ein faszinierendes fotografisches Oevre. Uns daran teilhaben zu lassen ist eine große Tat. (Panorama)

Ein Jeep kämpft sich durch das Schlammloch eines Waldwegs. Ein junger Mann tritt ins Bild, mit seinem Smartphone filmt er die Szene. Offensichtlich geht es darum, so eindrucksvoll wie möglich durch den Dreck zu heizen. Schnitt. Wir sehen jugendliche Musiker bei der Bandprobe - die Tonspur wird von Krach beherrscht; Death Metal. Schnitt. Panorama-Einstellung, strahlendes Sonnenlicht hebt das hellblaue Gebäude vom Schnee ab, vor dem Komplex laden gelbe Schulbusse ihre Ladung ab, im Hintergrund scheinen Berge die Szenerie in der franko-kanadischen Provinz zu bewachen. Es folgen wiederkerende Beobachtungen von jungen Menschen im Schulgebäude und bei Gesprächen mit Erwachsenen. "Interventionspläne" werden mit Sozialarbeitern geschrieben , Ziele zwischen Schülern und Lehrkräften vereinbart. Probleme sind stets der Anlass für die Begegnung zwischen Erwachsenen und Teenagern. Jean-François Caissy richtet seine Kamera in LA MARCHE À SUIVRE immer auf die Jugendlichen. Wir beobachten ihre Gesichter, ihre Körperhaltungen - merkliche und beinahe unmerkliche Reaktionen auf die Versuche ihrer Disziplinierung mit Worten. Wertungen überlässt Caissy seinen Zuschauern. Ihn fasziniert die Beobachtung des Habitats Schule für pubertierende Menschen und er geht darüber hinaus, folgt den Jugendlichen in ihre Freizeit während der Ferien. Herumklettern auf rostigen Brücken, die Reifen qualmen lassen mit dem ersten Auto. Er rückt seinen Protagonisten nicht auf die Pelle, lässt zwischen ihnen und seiner Kamera stets einen Abstand, der sie in ihrer Umgebung konkretisiert. LA MARCHE À SUIVRE entwickelt sich zu einer unaufgeregten, von einem feinen Rythmus getragenen, Betrachtung dieses besonderen Ausnahmezustands namens Pubertät. (Forum)