Berlinale 2015 - Bulletin (8) - I AM MICHAEL

"God gave us truth for a reason. It exists so we could be ourselves. It exists so we could share that perfect self with the world, to make the perfect world. These are not fanciful schemes or strange ideals – these are the Truth."

Dieses Zitat stammt aus einem Text, den Michael Glatze im Jahr 2007 schrieb. Glatze war einmal Mitherausgeber des legendären schwulen US-Jugendmagazins XY, ebenso gründete und gab er das Heft YoungGayAmerica heraus, und drehte eine Dokumentation über das Leben schwuler und lesbischer Jugendlicher in den USA in den frühen 2000ern. Es war die Zeit, in der Matthew Shepard qualvoll ermordet wurde, als an Homo-Ehe weder in Europa und schon gar nicht in den USA zu denken war. Von sozialen Netzwerken und Dating-Apps ganz zu schweigen.

(c) Cara Howe/IFB2015

Wer nicht das Privileg hatte, in den großen Metropolen der USA aufzuwachsen, wer mit Pubertät und Coming-Out im ländlich-kleinbürgerlichen Amerika beschäftigt war, der hatte wenig Hoffnung in seinem Sein von seiner Umgebung angenommen zuwerden. Genau für diese jungen Menschen arbeitete Michael Glatze, ermöglichte ihnen eine Perspektive und half, sich selbst zu finden in ihrer Identität. Kurz: Er war ein waschechter Homo-Aktivist.

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Mitte der 2000er brach das alles zusammen: Michael Glatze wurde radikaler Christ und verteufelte fort an (und bis heute) sein bisheriges schwules Leben und homosexuelle Neigungen insgesamt. 2013 heiratete er schließlich - eine Frau. Wie das alles geschehen konnte und wie aus dem Vorzeigeaktivisten das komplette Gegenteil wurde, versuchen Regisseur Justin Kelly und Drehbuch-Co-Autorin Stacey Miller in ihrem Drama I AM MICHAEL zu ergründen.

"I just wanne be together with my parents in heaven." - diesen Satz wird der Film-Michael irgendwann mitten drin und auf halbem Weg zum strengen Evangelikalen sagen, aber eigentlich ist es eine Art Quintessenz, die Kelly und Miller aus dem Schicksal des lebenden Michael Glatzes ziehen: Ein Junge, der mit 13 unerwartet den Vater verlor und mit 20 die Mutter, sehnt sich nach einem Wiedersehen mit seinen Eltern - der feste Glaube an Gott soll es richten.

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Es ist müßig darüber zu diskutieren, ob dies ausgerechnet durch die komplette Denunziation des bisherigen Lebens gelingen kann. Glaubensfragen sind in I AM MICHAEL nicht von zentralem Belang, woran Miller und Kelly gut tun, ansonsten wäre dieser Film zum Scheitern verurteilt gewesen.

Sie fragen eher, welchen Preis die Flucht in die ultimative Orthodoxie von einem Individuum fordert, und was das mit diesem und den ihm nahestehenden Menschen macht. So gesehen ist ihr Film nicht nur ein kurzweiliges Biopic, sondern auch eine fesselnde Erkundung dessen, was man getrost als Seuche unserer Zeit bezeichnen kann: Die religiöse Radikalisierung, um jeden Preis

"I was a heterosexual person with a homosexual problem" - es sind Sätze wie dieser, die immer wieder hängen bleiben. Die die Frage aufwerfen, warum niemand diesen Mann von seinem Wahn abhalten konnte. Ein Wahn, der, so lässt es uns der Film letztendlich lesen, aus einem Trauma her rührt.

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Eine fiese oder eher tragische Ironie des Schicksals, dass der der einstmals wie ein Messias schwulen und lesbischen Jugendlichen half, den Weg zu einem Leben im Frieden mit sich selbst zu finden, (i.e. zur Erkenntnis) letztendlich in krass internalisierter Homophobie endete. Und sich dann erst recht als Messias sah - in Gottes Namen.

Man bleibt nach diesem Film ratlos zurück. Eine Ratlosigkeit, die vielleicht mehr ein Zweifeln ist. Etwas, welches offenbar auch Regisseur Justin Kelly und Drehbuchautorin Stacey Miller teilten und daher in das Schlussbild ihres Filmes einfügten. Denn wirklich glauben mag man den Wandel dieses Mannes bis zuletzt nicht, was nicht die Schwäche des Hauptdarstellers James Franco oder des Films ist, sondern deren Stärke.

I AM MICHAEL | USA 2015 | 100' | Justin Kelly | PANORAMA