Berlinale 2017: Bulletin (5) - Panorama Mix 2: CASTING JONBENET, DISCREET, THE TASTE OF BETEL NUT

Die Kinderschönheitskönigin JonBonet Ramsey wurde nur sechs Jahre alt, sie starb am 25. Dezember 1996 im Haus ihrer Eltern in Boulder, Colorado, USA. Ein Mordfall, hierzulande weitgehend unbekannt. Die US-Öffentlichkeit beschäftigt dieser Fall bis heute, denn wer der oder die TäterIn war, liegt bis heute im Dunkeln? Die australische Filmemacherin Kitty Green wagt mit ihrer (für das VOD-Portal Netflix produzierten) Dokumentation CASTING JONBENET eine Annäherung an diesen Fall. Doch Green macht etwas komplett anders, als man es sonst von US-Dokus im Berlinale Panorama gewohnt ist. Sie wählt einen formal experimentelleren Ansatz, benutzt keinerlei Archivmaterial und verzichtet auf die schier obligatorisch gewordenen Zeitzeugen. Vielmehr werden wir als Zuschauer zu Zeugen gemacht: Wir sehen Castings für Rollen eines fiktionalen Films über diesen Fall. Kitty Green sucht DarstellerInnen für die Mutter, den Vater, den Bruder, die Ermittler, einen weiteren Tatverdächtigen – und für JonBonet Ramsey.

Casting JonBenet Ramsey | (c) Foto: image.net
 
Vor der Kamera berichten diese CastingkandidatInnen von der Motivation für die Bewerbung auf ihre jeweilige Rolle und wie sie diese anlegen würden. Oder wir schauen – im Fall des Castings für den etwas älteren Bruder – 10-jährigen Jungen dabei zu, wie sie mit einer Taschenlampe aus Wassermelonen einschlagen. Fast beiläufig wird in den Gesprächen mit den BewerberInnen der Hergang der damaligen Ereignisse nachgezeichnet: Am Anfang des Mordfalls stand eine (angebliche) Entführung und ein Erpresserbrief, den die Mutter Patsy Ramsey statt ihrer Tochter im Haus auffand, woraufhin sie die Polizei alarmierte.
Noch am Abend des 25. Dezember entdeckte man das Mädchen tot im Keller ihres Zuhauses. Sie starb an einer Kombination aus Erwürgen und tödlichen Kopfverletzungen. Alsbald gerieten die Eltern in den Verdacht der Ermittler – und vor allem den der (medialen) Öffentlichkeit. Zuviele Dinge erschienen offenbar, so lässt es sich in CASTING JONBENET erfahren, zu verdächtig. JonBonet wurde Big News, die Ermordung des Mädchens entfachte einen wahren Sturm an Vermutungen, Verdächtigungen und Theorien. Die CastingbewerberInnen rekapitulieren dazu ihre eigenen Erinnerungen an die damalige Zeit. Kitty Green schrieb ihre Castings gezielt in der Gemeinde Boulder aus und sprach Personen an, die die Ramseys zumindest indirekt kannten. Im Verlauf der äußerst spannenden wie auch bedrückenden 81 Minuten transformieren sich jedoch die Erinnerungen der CastingkandidatInnen. Zunehmend drängen, ob des Nachdenkens über die Tat, deren eigene Schicksale und Erfahrungen an die Oberfläche. Wir hören Geschichten von ermordeten Kindern und kranken Eltern. Wir sehen Bewerber, die selber als Polizisten arbeiten und den Fall JonBonet Ramsey heute als Negativbeispiel für Polizeiarbeit verwenden. CASTING JONBENET entwickelt sich zu einer hochkomplexen, intelligenten und auch verstörenden Erörterung eines grausamen Mordes, die zugleich auf furiose Weise die Möglichkeitsräume dokumentarischen Erzählens auslotet.



Alex ist Filmemacher, woran genau er gerade arbeitet, ist unklar. Irgendwas mit Highways auf jeden Fall. Er lebt in einem schäbigen Van. Warum? Auch dies bleibt unbekannt. Texas im Winter, die Landschaft ist trocken und hässlich kahl, die Bilder wirken farbentsättigt. In einem Fluss treibt eine Leiche, penibel verpackt in schwarzer Plane und mit Kabelbindern verzurrt. Eine Frau spricht in die Kamera, sie faselt esoterisches Zeug. Alex fährt bei seiner Mutter vorbei, sie unterhalten sich über irgendetwas, plötzlich kommt ein Thema zu sprechen, bei dem die Mutter in Tränen ausbricht und eine Adresse preisgibt. Alex fährt zu dieser Adresse, ein befremdlich wirkendes großes, kahles Grundstück mit einem kleinen Bungalow darauf. Darin ein älterer Mann mit Parkinson und schlohweißem langen Haar. Alex trifft einen Teenager in einem Donut-Store und nimmt Kontakt zu ihm auf. Alex sucht anonymen Sex in einem abgenutzten Porno-Kino. Alex lädt Männer in ein Motel, verbindet ihre Augen, lässt sie sich nackt ausziehen und aneinander rumspielen, während er ihre Hosentaschen auf Bargeld durchsucht. – usw. usf. US-Filmemacher Travis Matthews versucht sich mit seinem neuesten Film DISCREET am Thrillergenre. Mysterythriller, um genau zu sein. Doch dieses filmische Projekt erweist sich binnen seiner 80 Minuten Laufzeit als veritables Desaster. Die Rätselhaftigkeit der Handlungen der Hauptfigur steht unmotiviert im Raum. Ein wirklicher Kulminationspunkt bleibt aus. Stattdessen werden unentwegt Andeutungen gemacht, die letztendlich nur ins Leere führen. Worum geht es hier? Geht es um sexuellen Missbrauch? Und Traumata der Kindheit. Um einen Serienkiller und darum, was ihn antreibt? Und wo ist hier eigentlich der Suspense? Als Zuschauer kann man sich darauf irgendeinen Reim machen, aber man kann es auch lassen. Denn schlussendlich verpufft DISCREET als schale Behauptung eines Genrestücks.



Bing Lang Xue | (c) Foto: Berlinale 2017

Die Betelnuss ist eine Frucht der Betelpalme, die vor allem im asiatischen Raum weite Verbreitung findet. Zerkaut man die Nuss, durchdringen Wärme und ein gewisses Wohlgefühl den Körper – Alkohol nicht unähnlich. In Hu Jias THE TASTE OF BETEL NUT hat diese Frucht in einem entscheidenden Moment ihren Auftritt, wenn die junge Bai Ling eine Betelnuss zerkaut und anschließend, die eigentlich als schwules Paar lebenden, Li Qi und Ren Yu zu einer Ménage à trois verführt. Um wesentlich mehr geht es in THE TASTE OF BETEL NUT (Bing Lang Xue) primär auch nicht. Die Beziehung eines jungen schwulen Paares (welches offenbar liebendgern in knappen Unterhosen durch die Gegend läuft) wird auf den Kopf gestellt, wenn eine junge Frau beide Männer verführt. Eine Verbindung, welche ein grausames Ende findet, nachdem sich das Trio mit einer lokalen Gang angelegt hat. Es ist dann auch dieser Wendepunkt im Drehbuch, der den erfreulichen ersten Eindruck von THE TASTE OF BETEL NUT nachhaltig trübt. Hu Jias Film erlebt dann seine stärksten Momente, wenn er sich ganz auf die beiden Hauptprotagonisten fokussiert und sie in ihrem Alltag auf einer malerischen chinesischen Urlaubsinsel illustriert. Ren Yu verdingt sich mit einem Karaokemobil am Strand und macht seine optische Ähnlichkeit zu einem Popstar bei den Touristinnen zu Geld. Li Qi arbeitet in einem Delfinarium. In der Rolle des Clowns führt er Kunststücke mit einem Seehund und mit den Delfinen auf. Insbesondere Zhao Bing Rui gelingt es, als Li Qi eine besondere Anziehungskraft zu entfalten. Er ist ein zurückgenommener, in sich ruhender Typ und der Ausgleich zu Ren Yu, welcher oft genug seine Grenzen nicht kennt. Und womit dieser schließlich auch fatales Unheil für das Trio heraufbeschwört. THE TASTE OF BETEL NUT – ein in Ansätzen schöner und faszinierender Film aus China, der jedoch darüber scheitert, eine Tragödie werden zu müssen. Schade.