Berlinale 2018: Bulletin (7): Mixtape - 6 Filme, 6 Texte

RIVER'S EDGE zeigt sich als abgründige Erzählung über eine Gruppe Teenager in den 90ern in einer japanischen Großstadt, welche binnen 118 Minuten zahllose Zumutungen, aber auch Solidarität untereinander erfahren. Filmemacher Isao Yukisada gelingt es dabei jedoch nur selten, die Vielzahl der Erzählstränge überzeugend in den Griff zu bekommen und den Figurenkonstellationen Tiefe und emotionale Glaubwürdigkeit zu verleihen. Sein Porträt einer selbstzerstörerischen Generation, welche die Zumutungen der Gesellschaft internalisiert, gerinnt zur Behauptung. Garniert mit bedeutungsschwangeren Bildern, verendet River’s Edge als überlange Telenovela.
River’s Edge | 118' | Isao Yukisada | Panorama

ZENTRALFLUGHAFEN THF | (c) Bild: Juan Sarmiento G.

Nach dem problematischen Spielfilm PRAIA DO FUTURO (Wettbewerb 2014), kehrt Filmemacher Karim Aïnouz zur Berlinale zurück und präsentiert die dokumentarische Arbeit ZENTRALFLUGHAFEN THF. Darin porträtiert er Bewohner*innen der Flüchtlingsnotunterkunft in den Hangars des früheren Flughafens Berlin-Tempelhof. Rund ein Jahr lang begleitet er den Alltag seiner Protagonist*innen in der Unterkunft, die eher einer Kleinstadt unter meterhohen Hallen gleichkommt – mit „Einfamilienhäusern“ aus Stellwänden. Karim Aïnouz gelingen in diesem kuriosen wie auch bedrückenden Mikrokosmos kleine Erzählungen über zum Stillstand gekommene Leben zwischen Resignation, schmerzhaften Erinnerungen und doch auch Hoffnung auf eine bessere Zukunft . Dabei gucken die Bewohner*innen stets auf jenen Ort, der makabererweise als „Tempelhofer Freiheit“ bezeichnet wird. Das Schicksal der Menschen im ehemaligen Zentralflughafen hängt von der Arbeitsgeschwindigkeit und dem Gutdünken der deutschen Bürokratie ab. Wie einen der höchsten Feiertage begehen dann auch jene den Moment, wenn die Ausländerbehörde ihnen endlich einen vollwertigen Asylstatus zuerkennt und sie aus dem Hangar ausziehen dürfen. Während andere an Silvester, und unter ohrenbetäubendem Dröhnen der Böller rings um das Flugfeld, sarkastisch die Erkenntnis „feiern“, dass sie bereits ihr zweites Jahr im Hangar verbringen. Diese Dokumentation zeugt von immensem Vertrauen zwischen Filmemachern und Protagonisten, welches die intimen Einblicke in dieses der Öffentlichkeit unzugängliche Paralleluniversum mitten in Berlin überhaupt erst ermöglicht. ZENTRALFLUGHAFEN THF entwickelt sich zu einer erkenntnisreichen Meditation über Existenzen im Wartezustand. Dabei finden Karim Aïnouz und sein Kameramann Juan Sarmiento G. eindringliche Bilder, die unbedingt auf der großen Leinwand zu betrachten sind.
Zentralflughafen THF | 97' | Karim Aïnouz | Panorama Dokumente

Nach Exkursen in Dokumente und Dokumentationen über die schwarze US-Bürgerrechtsbewegung, sondiert Filmemacher Göran Hugo Olsson mit THAT SUMMER diesmal Material, welches die Filmemacherin Lee Radziwill, Jacqueline Kennedy Onassis jüngere Schwester, zusammen mit dem Fotografen Peter Beard 1972 anfertigte. Ursprünglich als Dokumentation über ihre Kindheit auf Long Island angelegt, nahm Radziwill zusammen mit Beard für ihr Projekt auch vier Rollen 16mm-Film im Zuhause ihrer Tante und Cousine Edith Ewing Bouvier und Edith Bouvier Beale auf. Die Frauen lebten auf einem heruntergekommenen und zugewuchterten Anwesen in den East Hamptons an der US-Atlantikküste. Im Zuge der beabsichtigten Aufwertung der Hamptons zum Luxus-Rückzugsort durch die Behörden („Cash Hamptons“), drohte den Bouvier-Frauen die Zwangsräumung. Radziwill und Beard finden zwei verwahrlost wirkende Menschen vor, welche sich auch aufgrund der Schikanen durch die Behörden tief in eine eigene Fantasiewelt geflüchtet haben. Die Ursprungsidee der Filmemacherin gerät aufgrund der akuten Hilfebedürftigkeit von Tante und Cousine in den Hintergrund. Stattdessen fängt Peter Beards Kamera ein, wie Radziwill mit viel Liebe und Zuneigung den beiden Frauen aus ihrer misslichen Lage heraushilft und die Behörden in ihre Schranken weist. Lee Radziwills Film sollte nie fertigwerden, die vier Rollen Film gingen verloren. Filmemacher Göran Hugo Olsson bereitet das wiedergefundene Material nun auf und lässt es für sich selbst sprechen. Zusätzlich arrangiert er Material aus dem Umfeld Andy Warhols, welcher mit seinen Gefolgsleuten zur selben Zeit Gäste von Peter Beard in dessen Strandhaus in Montauk waren. Aus dieser Kombination erwächst einmal mehr ein faszinierender und auch melancholischer Ausflug in eine untergangenen Epoche. Gleichwohl: Eine Kenntlichmachung der Umstände, unter denen die vier Filmrollen wieder aufgetaucht sind, fehlt und stört den positiven Gesamteindruck dieser dokumentarischen Arbeit.
That Summer | 80' | Göran Hugo Olsson | Panorama Dokumente

Kaiserbad, Berliner Badewanne, NS-Rüstungsstandort, Ferienmekka, Symbol deutsch-polnischer Annäherung, Investmentparadies, Massentourismus: In den 95 Minuten seiner Arbeit USEDOM - DER FREIE BLICK AUFS MEER durchschreitet Dokumentarfilmemacher Heinz Brinkmann Geschichte und Gegenwart der Insel Usedom. Investoren, Gewerbetreibende, Kellner, Fischer, Ortschronisten, Lokalpolitiker – mit jeder Person vor der Kamera rollt Brinkmann eine weitere Perspektive auf die Lebenswirklichkeit der Ostseeinsel aus und verknüpft diese zugleich mit der Vergangenheit. So reizvoll und informativ dieser Reigen anfänglich ist, treten in Brinksmanns dokumentarischer Arbeit alsbald die fehlende kritische Distanz und insbesondere die Abwesenheit jeglicher Erörterung der politische Lage auf der Insel unübersehbar zutage. Warum die AfD auf Usedom Rekordwerte verbucht, kein Wort darüber. Dass die Verkehrsinfrastruktur während der Urlaubssaison völlig überlastet ist und die Politik seit Jahren keine Lösung für dieses Problem findet, nichts dazu. Auch bleibt ausgespart, welche Folgen die wirtschaftliche Monokultur (Tourismus) auf die Inselbevölkerung eigentlich hat. Doch eine Erzählung über Usedom kann ohne diese Aspekte nicht vollständig sein. Umso ärgerlicher, wenn dann auch die visuelle Umsetzung in Form einer nachmittäglichen TV-Reportage vorgenommen wird. Der freie Blick, zumindest für diese dokumentarischen Arbeit, ist nur eine Behauptung.
Usedom – Der freie Blick aufs Meer | 95' | Heinz Brinkmann | Berlinale Special

Es wird wenig gesprochen in LOS DEBILES und wenn gesprochen wird, dann eher in Rätseln und seltsam geheimnisvollen Andeutungen. Einzig aus dem Autoradio plappert es munter, werden die jüngsten Entführungen und Ermordungen durch die Drogenkartelle mitgeteilt, und Baseball-Ergebnisse. Victor, ein völlig wortkarger Typ sucht die Mörder seiner Hunde. Mutmaßlich war es eine dieser Drogengangs vor der alle in diesem Film Angst zu haben scheinen. Sein Weg führt von Hinweis zu Hinweis zu Hinweis. Auf der Ladefläche seines Pick-up modern derweil die Leichen seiner Hunde in der heißen Sonne. Raúl Rico und Eduardo Giralt Brun inszenieren vordergründig eine Fabel über Rache. Im Subtext dieses wunderbar lakonischen wie auch schrägen Films unternehmen die Filmemacher hingegen erfolgreich den Versuch, die alltäglichen Gewaltexzesse im nördlichen Mexiko begreifbar zu machen. Dabei arbeiten sie klug heraus, was ein Leben in konstanter Bedrohung in Individuen anrichtet, wenn selbst Teenager insgeheim Killer sein könnten. Oder eben nur Kids die Baseball spielen.
Los débiles-The Weak Ones | 65' | Raúl Rico, Eduardo Giralt Brun | Forum

Die Aufarbeiten oder vielmehr die nicht-Aufarbeitung der Gräueltaten des Franco-Faschismus in Spanien, waren mehrfach Thema dokumentarischer Arbeiten im Panorama der Berlinale. THE SILENCE OF THE OTHERS von Almudena Carracedo und Robert Bahar bringt zu diesem Thema einen neuen Aspekt auf die Leinwand, den  Versuch der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen. Diese ist jedoch fast unmöglich, denn, wie wir lernen, beschloß das spanische Parlament 1977 ein Amnestygesetz, welches nicht nur Gefangenen des Franco-Regimes die Freiheit zurückgab, sondern auch die Täter vor Verfolgung schützt, bis heute. Die Filmemacher veranschaulichen dabei sehr eindringlich, welche unsäglichen Folgen dies hat. Etwa wenn ein ehemaliger politischer Gefangener nicht nur in einer Straße wohnt die den Namen eines Verbrechers trägt, sondern sein Folterer bis heute unbehelligt in der Nachbarschaft lebt. Anhand der Verfolgung der Arbeit von Menschenrechtsanwälten und den Erzählungen von Opfern, entwickeln Almudena Carracedo und Robert Bahar ihre dokumentarische Erzählung über den Versuch, die Täter von einst doch noch vor Gericht zu bringen. Selbst wenn dies bedeutet bis nach Argentinien reisen zu müssen, weil Spaniens Gerichte die Arbeit verweigern. Wünschenswert wäre es gewesen, die Filmemacher*innen hätten sich bei der visuellen und dramaturgischen Umsetzung ihres Stoffs mehr emotionale Zurückhaltung auferlegt. Vermitteln die geschilderten Geschehnisse und die Geschichten der Protagonisten doch bereits einen intensiven Eindruck davon, welch skandalöse Ungerechtigkeit den Opfern des Franko-Faschismus tagtäglich widerfährt. So gerinnt THE SILENCE OF THE OTHER phasenweise zu einer geradezu boulevardesken TV-Reportage, die ihrem Anliegen keine Gefallen tut. Gleichwohl gibt diese dokumentarische Arbeit in vielerlei Hinsicht Auskunft darüber, welch eklatante Defizite beim spanischen Staat und in der Zivilgesellschaft in punkto Bewältigung des Faschismus immer noch vorherrschen. Nebenbei wird deutlich, welch Schatz die Mahn- und Gedenkkultur in Deutschland eigentlich darstellt.
The Silence of Others | 95' | Almudena Carracedo, Robert Bahar | Panorama Dokumente