Berlinale 2019: 25 Filme, 25 Texte | Glücksfälle und Gardinenpredigten


51 Filme zwischen 4 und 218 Minuten Länge konnten während des Festivals 2019 gesichtet werden. Darunter waren 10 Produktionen aus dem Programm der Retrospektive und den Sonderprogramme „Panorama 40“ und „Archival Constellations“ (Forum). Die folgenden 25 Miniaturen konzentrieren sich auf Filme des Programms 2019, also mit den Produktionsjahren 2018 und 2019.

Angelehnt an Elfride Jelineks „Die Kinder der Toten“ und produziert vom österreichischen Filmemacher Ulrich Seidel, präsentiert das US-Performanceduo The Nature Theater of Oklahoma in seinem Debütfilm DIE KINDER DER TOTEN eine gleichermaßen kluge wie aberwitzige Meditation über den Albtraum des Lebens und des Totseins in der steirischen Provinz. Die Farce aus Zombie- und Heimatfilm zeigt sich dabei als 90 minütiger cinephiler Wahnsinn, der in keinem Leben fehlen sollten. Im Nachleben ebensowenig. _ DIE KINDER DER TOTEN; The Nature Theater of Oklahoma; AT 2019, 90’; Forum _ siehe auch: „Karin, die Zombies und rosa Flamingos“

FOURTEEN | (c) Bild: Christopher Messina/IFB 2019

Seit der Schulzeit sind Jo und Mara Freundinnen. Obwohl die Charaktere der jungen Frauen kaum unterschiedlicher sein könnten und Jo's alles verzehrende Lebenskrisen in immer schnellerer Taktung folgen, scheint ihr Band der Freundschaft unkaputtbar. Filmemacher Dan Sallitt untersucht in FOURTEEN die Architektur einer Freundschaft und wie diese allmählich irreperable Schäden erleidet. FOURTEEN wandelt sich in 94 Minuten zu einer hochkonzentrierten, dröhnend stillen  und schmerzhaften Erzählung über eine völlige Entfremdung. Ein Film, der lange nachwirkt. _ FOURTEEN; Dan Sallitt; USA 2019, 94’; Forum

Was ist Familiengeschichte, wie konstituiert sie sich, wovon wird sie beeinflusst, wo beginnt, wo endet sie und wann werden Menschen zu Spielfiguren des Schicksals? Fragen, welche die dokumentarischen Arbeit HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT aufwirbelt. Der Filmemacher Thomas Heise gräbt sich in 218 Minuten durch die Geschichte seiner eigenen Familie, angefangen im Jahr 1912 und zumindest filmisch endend 2014. Die historischen Wegmarken dieses Zeitraums sind klar, doch wie wirken gesellschaftliche Normen, Weltkriege, Kämpfe politischer Systeme und ja, auch die Liebe auf und in den Lebenswegen einzelner Menschen? Thomas Heise legt mit HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT eine vielschichtige Kontemplation über die Macht und Ohnmacht des Individuums in den Zeitläuften vor. Die extrem minimalistische Erzählweise und strenge visuelle Form des Films erweisen sich dabei jedoch als eine erhebliche Herausforderung für die Konzentrationsfähigkeit. Gleichwohl ist es lohnenswert, sich in diesen Film einzugraben und HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT als Denkraum zu erobern, der zum Entdecken der eigenen (Familien-)Geschichte anstiftet. _ HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT; Thomas Heise; DEU 2019, 218’, Dok.; Forum

HEIMAT IST EIN RAUM AUS ZEIT | (c) Foto: Ma.Ja.De/IFB 2019

Pablo ist ein attraktiver Mann Anfang 40 und steckt in Schwierigkeiten. Auf der einen Seite steht sein Wunsch endlich als schwuler Mann leben zu können. Auf der anderen Seite die Liebe zu seinen Kindern, welche ihm von seiner evangelikale Ehefrau und Familie weggenommen werden, weil Pablo sein Schwulsein leben möchte. Er wird gezwungen, sich zu entscheiden. Filmemacher Jayro Bustamante präsentiert uns in TEMBLORES einen Mann in einer unmöglichen Zwickmühle. Anfänglich visuell und atmosphärisch durchaus gelungen, nimmt TEMBLORES zunehmend groteske wie auch agitatorische Züge an. Denn Jayro Bustamante misstraut uns, den Zuschauenden, unserem Einfühlungsvermögen, unserer Fähigkeit zur Erkenntnis. Er predigt lieber und wir haben gefälligst zu empfangen. _ TEMBLORES; Jayro Bustamante; GTM/FRA/LUX 2019, 107’; Panorama _ siehe auch: „Betreutes Filmegucken

Deutschland, 2017/18: Geflüchtete aus Syrien stoßen auf frühere Arbeiter des VEB Kombinats „Fortschritt“ im sächsischen Neustadt. Der junge Filmmacher Florian Kunert setzt uns diese etwas gewollt anmutende Ausgangssituation in seiner dokumentarischen Arbeit FORTSCHRITT IM TAL DER AHNNUNGSLOSEN vor. Vom ehemaligen Vorzeigebetrieb der DDR für Landmaschinen sind nur noch Ruinen übrig. Für viele Biografien der Arbeiter*innen im VEB „Fortschritt“ gilt dies seit der Wende genauso. Auch die Leben syrischer Geflüchteter haben durch den Krieg einen fundamentalen Bruch erlitten, nicht zuletzt weil sie nun im sächsischen Nirgendwo festsitzen. Trotzdem scheinen junge Syrer und alternde Ossis anfänglich Galaxien zu trennen, wenn die alten Männer den jungen irgendwie versuchen Deutsch beizubringen. Filmemacher Florian Kunert präsentiert uns ein durchaus gewagtes soziales Experiment, dessen Verlauf sich jedoch als überraschend komplex und erkenntnisreich erweist. Zum Glück, denn die inszenatorischen Eingriffe des Filmemachers wirken mitunter arg überambitioniert. _ FORTSCHRITT IM TAL DER AHNNUNGSLOSEN; Florian Kunert; DEU 2019, 67’, Dok.; Forum

FORTSCHRITT IM TAL DER AHNNUNGSLOSEN | (c) Bild: tsb/Joanna Piechotta/IFB 2019

Was haben französische Agitprop-Filme der 1960er und 70er mit den Lebenswelten junger Menschen heute gemeinsam? In rund 89 der 94 Minuten von NOS DÈFAITES ist diese Frage einfach zu beantworten: Gar nichts. Jean-Gabriel Périot lässt im Sommer 2018 Schüler*innen eines Pariser Gymnasiums Werke von Alain Tanner, Jean-Luc Godard u.a. reinszenieren. Die Filme verhandelten damals, in der Hochzeit der 68er, Fragen des Widerstands gegen politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten. Heute sollen die Schüler*innen jene Werke zu neuem Leben erwecken. Zugleich befragt der Filmemacher die Schüler*innen zu den Themen der Filme. NOS DÈFAITES krankt an dieser Ausgangssituation bis zum Schluß. Denn hier werden Teenager in einer oberlehrerhaften Weise mit Problemstellungen und Fragen konfrontiert, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt ihres Lebens für sie null Relevanz besitzen. Ihrer Antworten fallen entsprechend verschult und leblos aus. Die Diskrepanz zwischen den Gedankenwelten der Teenager und denen des Regisseurs tritt unerbittlich zutage, was den Teenagern nicht anzulasten ist. Jean-Gabriel Périot hat eine rundheraus abstoßend bildungsbürgerliches Werk geschaffen, welches nur durch einen unkalkulierbaren Zufall der Geschichte gerettet wird: Einige Monate nach Ende der Dreharbeiten geraten die Schüler*innen in einen Konflikt mit ihrer Schule und den Behörden. Sie erfahren staatliche Repression, womit die Frage nach der Notwendigkeit von Widerstand für sie akute Dringlichkeit erfährt. Erst hier, in den letzten kaum fünf Minuten, erlangt schließlich auch Jean-Gabriel Périots Film eine Berechtigung. _ NOS DÈFAITES; Jean-Gabriel Périot; FRA 2019, 94’, Dok.; Forum

In einem pittoresken Küstenkaff in Cornwall kämpft der Fischer Martin gegen die Verdrängung seines Gewerbes durch reiche Städter und den Tourismus.  Gedreht auf grobkörnigem, von Hand entwickeltem 16mm-Film und in Schwarz-Weiß, ist BAIT ob der Materialität der Kinobilder ein besonderes visuelles Ereignis. Regisseur Mark Jenkin versetzt sein Publikum zurück in eine Epoche des Filmemachens und -erlebens, die nicht erst gestern untergegangen ist. Auch die Gestaltung der Tonspur, der Schnitt, die Dramaturgie, die Rahmung der Filmbilder, all das setzt Rückverweise auf vom Fortschritt längst verschlucktes Filmhandwerk. Reenactment hinter der Kamera und am Produktionstisch – während sich vor der Kamera Heute und Gestern zoffen als ginge es um Leben und Tod. Letztendlich geht es darum dann auch – in diesem unterkomplexen Kampf zwischen dem im Dialekt nuschelnden Mar, der für das authentische, das ehrliche, das redliche Handwerk steht. Und den Oxfordenglisch sprechenden Touristen aus der Großstadt, die im Oberklasse-SUV anreisen, mit Biolebensmitteln, Champagner und ihren verzogenen Nachkommen im Gepäck. Wem als Publikum unsere Sympathien gelten sollen, steht außer frage. Gebrochen wird diese Anordnung an keiner Stelle, vielmehr treibt Mark Jenkin seine Geschichte zu einem todbringenden Finale. Als Zuschauer dieser schlechten Kopie einer antiken Tragödie fühlt man sich irgendwann genauso mies behandelt wie die Figuren dieses Films. _ BAIT; Mark Jenkin; GBR 2019, 88’; Forum _ siehe auch: „Betreutes Filmegucken

BAIT  | (c) Bild: Early Day Films Limited/IFB2019

„Wir sind große Fans seiner Arbeit“, sagte Forum-Kuratorin Birgit Kohler zur Begrüßung von Nikolaus Geyrhalter im Anschluss an eine Vorstellung seiner neuen dokumentarischen Arbeit ERDE. Das sind keine guten Nachrichten fürs Forum der Berlinale. Geyrhalter zeigt uns 115 Minuten lang und in Ehrfurcht heischenden Einstellungen wie der Mensch sich durch die Erdoberfläche pflügt, sprengt und gräbt. Neue Tunnel, neue Wohngebiete und frische Rohstoffe müssen der Erdkruste mit einem gewaltigen Maschinenpark abgetrotzt werden. Die daraus resultierenden Mondlandschaften werden mittels modernster Dronentechnik von Geyrhalter opulent zur Geltung gebracht und erweisen sich als ausgesprochen fotogen. Und ERDE erweist sich als ein zutiefst „anständiger“ Film, der alles richtig macht. Eindrucksvolle Bilder, spannende Protagonisten, die richtigen Themen. Alles so überwältigend richtig. Man will sich richtig schön schlecht fühlen ob des Unheils, welches wir Menschen anrichten. Als ob man Sonntags aus der Messe kommt und eine Gardinenpredigt von der Kanzel empfangen hat. Schrecklich. _ ERDE; Nikolaus Geyrhalter; AT 2019, 115’, Dok.; Forum

Der Cowboy Marcelo verliert den Halt in seinem Leben, nachdem er hilflos mit ansehen muss, wie ein groß angelegter Viehdiebstahl seine Arbeitsgrundlage zerstört. Marcelos Weg zurück in die Normalität und die Eroberung einer neuen Passion als Präsentator von Rodeoshows bilden den Kern der Erzählung in Helvécio Marins Jr. zweitem Langspielfilm QUERÊNCIA. Angesiedelt im landwirtschaftlich geprägten brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais, erzählt Helvécio Marins Jr. allerdings noch weitaus mehr als nur die Geschichte seines gebrochenen Helden. Er porträtiert einen Landstrich, der von den brasilianischen Metropolen ignoriert wird und dessen Bewohner*innen sich selbst überlassen sind. Dokumentarisches und fiktionales Erzählen überlagern sich in QUERÊNCIA. Still, dramaturgisch angenehm zurückgenommenen und manchmal mit gar sphärischer Rätselhaftigkeit berichtet er uns von der Lebenswirklichkeit in einer Welt, die von der Moderne nichts zu erwarten hat. _ QUERÊNCIA; Helvécio Marins Jr.; BRA 2019, 90’; Forum

„I am my asshole and god is my asshole“ – Irgendwann in A ROSA AZUL DE NOVALIS werden wir die vielleicht pornografischste und zugleich introspektivste Kamerabewegung erleben, die die Berlinale je gesehen hat. Überhaupt zeigt sich das Porträt des schwulen, mittelalten Marcelo aus Sao Paulo alles andere als schüchtern. Explizit dargestellte Sexualität ist Teil dieses Films, weil Sex ein extrem wichtiger Bestandteil in Marcelos Leben zu sein scheint – neben seinem Faible für die Handlesekunst und seiner mannigfaltigen literarischen Besessenheit. Die Filmemacher Gustavo Vinagre und Rodrigo Carneiro stellen uns diesen irritierenden und zugleich durchaus sympathischen Charakter vor. Wir kommen Marcelo wortwörtlich nahe, wenn er uns scheinbar genüsslich an seinen schmerzhaftesten und intimsten Erlebnissen teilhaben lässt. Intimität ist in A ROSA AZUL DE NOVALIS eine Währung, mit der verschwenderisch umgegangen wird. Auch die Kamera der Filmemacher lässt Marcelo zu keinem Zeitpunkt aus dem Blick, verlässt seine Wohnung niemals. Das Äußere, die Welt jenseits dieses lockenköpfigen, etwas abgelebten Typen existiert visuell nicht. Dafür ist sie in seinen Anekdoten, Deklamierungen und Erinnerungen umso lebendiger. So lebendig, dass sich schnell Zweifel einschleichen. Wo verläuft hier eigentlich die Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion? Was ist Fantasie, was ist Erinnerung und wem gehört diese Erinnerung? Wann räumt hier irgendeine Form von Realität die Bühne für die Performance? Und was hat das alles mit Novalis zu tun? A ROSA AZUL DE NOVALIS ist ein in jeder Hinsicht anarchischer Film, der mit offenkundig frivolem Vergnügen dazu einlädt ihm zu misstrauen und sich einen eigenen Reim auf all das zu machen. Ein Glücksfall für das Kino und für das Forum der Berlinale sowieso. _ A ROSA AZUL DE NOVALIS; Gustavo Vinagre, Rodrigo Carneiro; BRA 2019, 70’; Forum

A ROSA AZUL DE NOVALIS | (c) Bild: Carneiro Verde/IFB 2019

Der verarmte Stadtteil Traiano in Neapel gilt als Mafiahochburg, 2014 wurde hier der unbewaffnete Teenager Davide Bifolco von der Polizei erschossen. Ein Fall, der bis heute für Sprengstoff in der Stadt sorgt. Filmemacher Agostino Ferrent recherchierte über den Fall, als er auf die Teenager Pietro und Allessandro stieß. Auch sie wachsen in Traiano auf und sie waren Freunde Davide Bifolcos. Der Filmemacher drückte den Jungs Smartphone und Mikro in die Hand und in der Folge nahmen sie scheinbar ihre eigene Schilderung vom Leben und Sterben in Traiano vor: SELFIE zeigt sich als knapp 80 minütige First-Person-Erzählung über das Aufwachsen in einer Welt voller Gewalt und ohne Chancen auf eine glückliche Zukunft. In der Theorie reizvoll, krankt dieses dokumentarische Experiment jedoch an der nicht zweifelsfrei identifizierbaren Position des Filmemachers. Ist er Beobachter oder inszenatorisches Korrektiv? Wie selbstbestimmt und glaubhaft sind die Bilder, die Pietro und Allessandro mit ihrem Smartphone aufzeichnen? _ SELFIE; Agostino Ferrent; ITA/FRA 2019, 77’, Dok.; Panorama Dokumente

40 Jahre arbeitete Letizia Battaglia in Palermo als Pressefotografin. Sie war dort die erste Frau im Gewerbe und zudem Pionierin in der Dokumentation des alltäglichen Gemetzels durch die Mafia, genauzer die Cosa Nostra. Filmemacherin Kim Longinotto stellt uns diese engagierte Frau in ihrer Dokumentation SHOOTING THE MAFIA vor. Ihr gelingt zunächst ein durchaus eingängiges Porträt Letizia Battaglias, die trotz ihrer Energie die Schatten des Grauens nicht mehr lozuwerden scheint. Die Doku lebt dabei vor allem von Battaglias fotografischem Werk und ihrer Gesprächigkeit, hat filmsich jedoch sonst nur wenig vorzuweisen. Und so gerinnt SHOOTING THE MAFIA leider zum schaurig-schönen Gruseln, das betregten Schweigen macht aber inszenatorisch völlig verschenkt ist. _ SHOOTING THE MAFIA; Kim Longinotto; IRL/USA 2019, 94’, Dok.; Panorama Dokumente

Man kann es sich einfach machen mit diesem Film: Junger, hübscher Schnupsi wandert durch endlose und leere afrikanische Landschaften, auf der Suche nach irgendetwas, angeblich seine Mutter, oder einem Papagei, oder beidem. Diese Lesart ist absolut legitim und gibt den Inhalt von SERPENTÁRIO durchaus auch treffend wieder. Natürlich ist die Sache mit Carlos Conceiçãos dokumentarischer Arbeit komplexer. Was ist Heimat für Menschen, deren Vorfahren als Siedler einer Kolonialmacht in einem afrikanischen Land ihr Zuhause fanden? Die mehrere Generationen später, während der afrikanischen Befreiungskriege, aus ihrem Zuhause rausgeworfen wurden und „zurückkehren“ mussten in Land, welches für sie niemals Heimat war und ihr Zuhause schon gar nicht. Die schließlich dorthin zurückkehrten wo sie ihr Zuhause hatten, das aber ihre Heimat nicht mehr sein konnte und durfte. Was kann man als Nachkomme dieser Menschen finden, wenn man sich heute auf die Suche nach einer Antwort zur Frage der Heimat begibt? Und nach was sucht man dann eigentlich genau? Im Vordergrund von SERPENTÁRIO steht die Suche eines jungen Mannes nach seiner Mutter, die irgendwo im Nirgendwo zu finden sein soll. Doch das Vordergründige ist nicht der Kern dessen, was diesen rätselhaften und zugleich atmosphärischen wie  betörenden Film bestimmt, der enorm lange nachwirkt. Hier geht es um das Überwinden einer Entwurzelung und das Finden eines Zuhauses für die eigene Identität. _ SERPENTÁRIO; Carlos Conceição; AGO/PRT 2019, 83’, Dok.; Forum

SERPENTÁRIO | (c) Bild: Mirabilis/IFB 2019

In den USA war Pauline Kael über Jahrzehnte eine der einflussreichsten Filmjournalist*innen überhaupt. Zahlreiche Filmemacher*innen haben ihren Plädoyers für deren Filme ihre Karrieren zu verdanken. Zugleich entrümpelte Kael die Filmkritik von akademischem Dünkel und setzte mit ihren subjektiven, an ein allgemeines Publikum addressierten Texten neue Maßstäbe. Für ihre vernichtenden Verisse war sie gefürchtet und deshalb nicht unumstritten. Filmemacher Rob Garver widmet der zeitlebens umtriebigen Frau nun mit WHAT SHE SAID: THE ART OF PAULINE KAEL ein Porträt und eine dokumentarische Arbeit, die Pauline Kael wohl mit einem Verriss bedacht hätte. Gleichwohl nicht uninformativ, zeigt sich Rob Garvers Film als zutiefst uninspirierte, visuell vollkommen langweile Aneinanderreihung von Themen, sprechenden Köpfen, abgefilmten Fotos und Schnipseln aus dem Kanon der Filmgeschichte Hollywoods. WHAT SHE SAID... ist ein Paradebeispiel für den erbarmungswürdigen Zustand des dokumenatrischen Erzählens in den USA. _ WHAT SHE SAID: THE ART OF PAULINE KAEL; Rob Garver; USA 2019, 95’; Panorama Dokumente

Kommunikation gehört zu unserem Menschsein. Doch wenn uns eine Demenzerkrankung zunehmend unserer kommunikativen Fähigkeiten beraubt, wie machen wir uns dann noch verständlich? Und umgekehrt, wie erreichen wir Menschen mit Demenz? In seinem Debütfilm DAS INNERE LEUCHTEN erkundet Stefan Sick die kommunikativen Welten von Menschen in einem Pflegeheim für Demenzerkrankte. Zurückgenommen und fast schon diskret beobachtet er mit seiner Kamera den Alltag der Bewohner*innen. Wir erleben Menschen, deren erratische Handlungsmotive aus einer Zwischenwelt des Erinnerns, des Vergessens und des bloßen Instinkst zu entspringen scheinen. Welche auf uns Zuschauende völlig irrational und befremdlich wirken, die allen anderen im Raum, die Pflegekräfte eingeschlossen, jedoch völlig normal erscheinen. Sofern Normalität in diesem Kontext überhaupt noch eine brauchbare Vokabel ist. Stefan Sick gelingt es, die Menschen in ihrem ganzen Gepräge aufzunehmen, ohne sie dabei jedoch aus- oder bloßzustellen. Es ist auch kein sezierend menschenkundlicher Blick. Es sind ehrliche aber ausbalancierte Neugierde und ja, auch Zärtlichkeit die uns ermöglichen diesen Menschen und ihren ephemeren Welten näher zu kommen. _ DAS INNERE LEUCHTEN; Stefan Sick; DEU 2019, 95’, Dok.; Perspektive Deutsches Kino

Mit David Dietls Arbeit BERLIN BOUNCER bekommt Berlins Clubkultur ihre erste(?) Veteranen-Dokumentation. Drei legendäre und gealterte Türsteher legendärer Clubs (darunter Fotograf und Berghain-Original Sven Marquardt) erzählen von ihren Anfängen und ihrer Arbeit, dürfen dabei aber vor allem erinnerungsseelig über eine Zeit berichten, als Berlin noch frisch und aufregend war und Renditeinteressen nicht das alleinige Normativ der Stadtentwicklungspolitik bildeten. Für 45 Minuten im Dritten Programm wäre das ok. Für 95 Minuten Kino ist das hier alles ziemlich dürftig. Zumal auch visuell nicht vielmehr als eine durchschnittliche TV-Doku stattfindet. Verschenkt. _ BERLIN BOUNCER; David Dietl; DEU 2019, 95’, Dok.; Perspektive Deutsches Kino

Die Kunsthalle Mannheim versucht eine Neuerfindung und lässt einen störrischen doch spannenden Mitzlaff-Bau von 1983 für einen austauschbaren Whitecube-Crowdpleaser von Gerkan, Marg & Partner (gmp) schleifen. Heinz Emigholz beobachtet in YEARS OF CONSTRUCTION Schließung, Abriss, Neubau und Eröffnung in schneller Taktung und wohl etwas gelangweilt. Nebenbei entlarven seine Bilder aber genau, dass das Problem in Mannheim nicht das 80er-Jahre-Gebäude war, sondern die ramschige Skulpturensammlung. Die ist geblieben. _ YEARS OF CONSTRUCTION; Heinz Emigholz; DEU 2019, 93’, Dok.; Forum

YEARS OF CONSTRUCTION | (c) Bild: Heinz Emigholz Filmproduktion/Filmgalerie 451/IFB 2019

Die Eine sucht Wörter, der Andere sucht Bilder. Afghanistan, Jugoslawien, Washington D.C. und ein Interims-Aufnahmestudio in London sind die Stationen ihrer gemeinsamen Reise. Das Ziel ist Kunst, wobei der Weg Teil des Werks wird: A DOG CALLED MONEY Der Popküstlerin PJ Harvey und dem Filmemacher Seamus Murphy beim Suchen zuzugucken, birgt keinen Erkenntnisgewinn. Ist aber auf schöne Weise nett anzusehen beziehungsweise anzuhören. PJ Harveys zuletzt erschienendes Album „The Hope Six Demolition Project“ ist übrigens ein Resultat der gemeinsamen Reise. _ A DOG CALLED MONEY; Seamus Murphy; IRL/GBR 2019, 90’, Dok.; Panorama Dokumente

SO PRETTY
Ronald M. Schernikaus „So schön“ als Kompass für eine komplexe Suche nach einem Platz zwischen den Geschlechtern. Nachdenken über den großartigen Coming-Out-Film der Trans*-Frau Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli – siehe ausführliche Besprechung: „Identitäten sind Kriegsgebiete _ SO PRETTY; Jessie Jeffrey Dunn Rovinelli; USA 2019, 83’; Forum

O BEAUTIFUL NIGHT
Mit dem Tod unterwegs und mit dem undeutschesten deutschen Film seit Ewigkeiten – siehe ausführliche Besprechung: „Los, bring mich nicht um _ O BEAUTIFUL NIGHT; Xaver Böhm; DEU 2019, 89’; Panorama

Es gibt Filme, die scheinen nur zu existieren, um eine zentrale Figur lebendig werden zu lassen und zu beobachten, wie sie auf die Zumutungen des Drehbuchs reagiert. Armando Praças Debütfilm GRETA ist so ein Fall. Hier steht der 70-jährige Krankenpfleger Pedro im Fokus, ein Kraftzentrum, welches mit frappierend störrischer Ruhe allerlei große und kleine Katastrophen meistern muss. Pedro ist als Gast der örtlichen Schwulensauna inzwischen der Älteste, was seine Aussichten auf penile Aufmerksamkeit gegen Null gehen lässt. Seine schwerkranke Transgender-Freundin Daniela raubt ihm den letzten Nerv. Und dann ist da noch der junge Jean, den Pedro zu nachts schwer verletzt aus dem überfüllten Krankenhaus zu sich nachhause schmuggelt, um ein Bett für Daniela frei zu bekommen – und Jean dem Zugriff der Polizei zu entziehen. Soweit das Tableau in GRETA. Das Drehbuch hat für die Figur des Pedro noch einiges mehr vorgesehen, was letztendlich auch das Problem an diesem Film ist: er will viel zuviel. Es gibt Filmemacher, die wissen wann sie sich selbst bremsen müssen, um ihr Projekt nicht zum scheitern zu bringen. Armando Praça ist keiner von ihnen. Trotzdem hat es durchaus seinen Reiz dem Schauspieler Marco Nanini als Pedro dabei zuzuschauen, wie er sich mit voller Körperlichkeit durch diese überbordende Erzählung durchkämpft. _ GRETA; Armando Praça; BRA 2019, 97’; Panorama

Es mutet wie ein kleines Paradies an: Zwischen einer Küstenstraße und der Wasserlinie der bulgarischen Goldküste befindet sich ein kleines, schmuckloses Schwimmbecken. Kein Zaun, kein Dach, kein Windschutz, der Blick geht direkt auf die offene See. JedeR kann zu jederzeit ein Bad nehmen. Durch einen improvisierten Zulauf strömt unablässlich warmes Thermalwasser ins Becken. Die meist älteren Badegäste genießen das Wasser und die Aussicht, auch wenn die Dampfschwaden von Lufttemperaturen knapp über Null Grad künden. „Die Grube“ nennen die Besucher*innen diesen irgendwie aus der Zeit gefallenen Ort. DIE GRUBE hat Filmemacherin Hristiana Raykova ihre dokumentarische Annäherung an diesen Ort betitelt. Für 73 kurzweilige aber intensive Minuten lässt sie uns eintauchen in diesen Mikrokosmos. Folgt den Menschen die hier baden, lässt sie von ihrem Alltag, ihren Geschichten und ihren Schicksalen berichten. Nach und nach puzzelt sich ein Eindruck von ihrer Lebenssituation im heutigen Bulgarien zusammen. Ein Land, deren Gesellschaft orientierungslos zwischen einer neuen Moderne, die vor allem Profitstreben bedeutet, und den Trümmern des Sozialismus umher zu dümpeln scheint. Halt finden die Menschen im Miteinander, das sich in Refugien wie der Grube konsituiert. Und doch geht es hier, wie Hristiana Raykova klug zu beobachten weiß, nicht ohne Spannungen untereinander ab. Denn längst ist dieser kleine Flecken, ist dieses Paradies in den Fokus der Politik und damit vor allem des Geldes geraten. DIE GRUBE ist ein beeindruckendes, mit großer Sympathie und Warmherzigkeit gefertigtes Porträt einer Welt, die (aus westlicher Perspektive) wie eine Utopie erscheint und die damit unrettbar zum Untergang verurteilt ist. _ DIE GRUBE; Hristiana Raykova; DEU 2019, 73’, Dok.; Perspektive Deutsches Kino


DIE GRUBE | (c) Bild: Johannes Greisle/Filmuniversität Babelsberg/IFB 2019

Die Filmauswahl des Berlinale Panoramas ist hin un wieder ein großes Glück, wenn sie uns Kinonationen näher bringt, von deren Existenz wir hier im Westen kaum bis keinerlei Ahnung haben, den Sudan beispielsweise. Die dokumentarische Arbeit TALKING ABOUT TREES stellt uns vier Herren fortgeschrittenen Alters vor, die zusammen den Sudanesischen Filmclub in Khartoum betreiben. Einstmals haben sie selber das Filmhandwerk im Exil im Westen erlernt und eigene Filme gedreht. Heute bleibt ihnen nicht mehr viel übrig als das längst vergessene Filmerbe des Sudans so gut es geht vor dem Verrotten zu schützen. Sie versuchen der inzwischen Jahrzehnte wehrenden politische Achterbahnfahrt des Sudans zu trotzen und wagen in Suhaib Gasmelbaris dokumentarischer Erzählung den Versuch, ein verfallendes altes Kino zu reaktivieren, um ihre Schätze präsentieren zu können. Der Filmemacher konzentriert seine visuell reichlich schlichte Erzählung dabei ganz auf die Protagonisten und ihre Geschichten. Die Männer werden sichtlich am Leben gehalten vom Verantwortungsgefühl für die Filme, die in ihrem Archiv lagern. Doch ihr eigentlicher Antrieb ist das Streben nach einem eigenen Kino. Doch bei aller spürbaren Liebe für seine Protagonisten, arbeitet Filmemacher Suhaib Gasmelbari deutlich heraus, dass dieser Traum im wirtschaftlich und politisch desolaten Sudan vielleicht auf ewig eine Illusion bleiben muss. _ TALKING ABOUT TREES; Suhaib Gasmelbari; FRA/SDN/DEU/TCD/QAT 2019; 93'; Dok.; Panorama Dokumente

Einmal mehr untersucht die Dokumentarfilmerin Annekatrin Hendel wie DDR-Geschichte, Wendezeit und Gegenwart in der Bundesrepublik auf individuelle Schicksale einwirken. In SCHÖNHEIT & VERGÄNGLICHKEIT nähert sie sich dem Fotografen Sven Marquardt und dessen früheren Modellen Dominique (Dome) Hollenstein und Robert Paris an. Alle drei erfuhren ihre Sozialisation im Osten und begannen im Ostberlin der späten DDR nach künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen. Mit der Wende verfielfältigten sich zwar die Möglichkeiten des künsterlischen Ausdrucks, doch zugleich waren sie gezwungen für sich selbst einen neuen Platz in dem zu finden was Marktwirtschaft genannt wurde. Annekatrin Hendels große Kunst als Filmemacherin besteht darin, ihre Protagonist*innen darüber im besten Sinne zum reden zu bringen. Wie schon in ihren vorherigen Arbeiten, so lässt sich auch in SCHÖNHEIT & VERGÄNGLICHKEIT ein immenses Vertrauen zwischen Filmemacherin und Protagonist*innen wahrnehmen. Phasenweise gleicht diese dokumentarische Arbeit eher einem launigen aber immer auch instruktiven Gespräch unter alten Freunden. Hendel verliert ihr erzählerisches Anliegen dabei zu keinem Zeitpunkt aus dem Blick, schließlich lässt sich an Dominique (Dome) Hollenstein, Robert Paris und Sven Marquardt auch ablesen, wie Individuen Auswege aus den Umwälzungen der Wende finden ohne sich dabei selbst zu verlieren und in Resignation oder Kränkung zu verfallen. 30 Jahre nach dem Mauerfall und mit einer neofaschistischen Partei in (ostdeutschen) Parlamenten die im Wahlkampf „Wende 2.0“ plakatiert, kommt SCHÖNHEIT & VERGÄNGLICHKEIT damit auch eine ungemein politische Relevanz zu. Hollenstein, Paris und Marquardt, dies fördert Annekatrin Hendel deutlich zutage, sind nicht verbittert über das was verloren ging, sind nicht klebengeblieben in den Erinnerungen an ihre zerstörten DDR-Identitäten. Sie haben für sich ein neues Zuhause in ihrem Leben aufgebaut. Zugleich registrieren sie mit kritischer Distanz welcher Preis dafür individuell wie auch kollektiv zu bezahlen war. _ SCHÖNHEIT & VERGÄNGLICHKEIT; Annekatrin Hendel; DEU 2019; 79’; Dok.; Panorama Dokumente

SCHÖNHEIT & VERGÄNGLICHKEIT | (c) Bild: It Works/IFB 2019

Welche Zukunft hat das Kino, der Kinofilm und der Deutsche Film? Fragestellungen, die angesichts mieserabler Kinobesuchszahlen in Deutschland und kaum mehr wahrnehmbarer internationaler Relevanz deutschen Filmschaffens die Branche hierzulande umtreiben. Vom Streaming-Boom ganz zu schweigen. Die dokumentarische Arbeit 6MINUTEN66 stiftet 15 jüngere deutsche Filmemacher*innen dazu an, über Auswege aus der Misere nachzudenken. Allein in einem Hotelzimmer sitzend und beobachtet von zwei Kameras, haben sie jeweils rund sechs Minuten Zeit, ihre Gedanken zur Zukunft zu formulieren, sofern ihnen welche einfallen. Die Filmemacher*innen Katja und Julius Feldmeier stecken hinter diesem filmischen Experiment, dessen Grundidee sie vom längst zur Ikone erklärten deutschen Filmemacher Wim Wenders und dessen Film CHAMBRE 666 übernahmen. Böse Zungen könnten meinen, dass sich allein damait schon einige Grundprobleme des Deutschen Films markieren: mangelnde Innovationskraft und die unentwegte Orientierung an alternden deutschen Regiemännern, welche den Zenit ihrer Relevanz schon lange hinter sich haben. Zum Glück beweisen die Protagonist*innen in 6MINUTEN66 wesentlich mehr Einfallsreichtum. Und es bleibt zu hoffen, dass diese Arbeit erst der Anfang des filmischen Nachdenkens über Film und Kino in Deutschland ist. Dann keiner der 15 in 6MINUTEN66 stellt wirklich die Systemfrage: wie kann man das deutsche Filmförderunwesen reformieren – oder loswerden? _ 6MINUTEN66; Katja & Julius Feldmeier; DEU 2019; Dok.; Gast der Perspektive Deutsches Kino