Berlinale 2018: Bulletin (2): CASANOVAGEN
Venedig, am Ufer, im Vordergrund wild schwankende Gondeln, der Campanile di San Marco auf der anderen Uferseite. Eine flamboyante Figur betritt das Bild, stellt sich vor den Gondeln auf, posiert in ihrem pinken und federgeschmücktem Flamingo-Kostüm. Touristen entern die Szenerie, lassen sich mit der Figur fotografieren, immer mehr, Geiern gleich schwirren sie umher. Das Bild der Kamera wird von Rücken verdeckt. Schnitt. Die Ecke eines spartanischen Arbeitsraums, Monitore, eine Tastatur, Lautsprecher aus denen schrilles Gezwitscher dringt. In den Monitoren ist ein kleiner Vogel zu sehen der in seinem Käfig wild von einer zur anderen Stange springt. Eine Menschenhand nähert sich dem Käfig, ein weiterer Vogel wird in den Käfig gesetzt. Das hastige Zwitschern verändert sich. Schnitt.
Ein Wissenschaftler erklärt im Interview das Paarungsverhalten von Finken: das lautstarke Werben des Männchens für das Weibchen, welches Paarungsbereitschaft signalisieren muss. Der Akt, Kloake an Kloake, der kaum zwei Sekunden dauert. Schnitt. Eine Bar, Musik, ein paar junge Leute, sie sitzen wie drapiert herum, betreiben Konversation. Die Musik wird abgedreht. Eine junge Frau liest aus Casanovas Memoiren - seine Gedanken zur weiblichen Lust und sein Nachdenken darüber was Frauen an der Lust finden, trotz des ständigen Risikos schwanger zu werden. Schnitt.
CASANOVAGEN, das erste abendfüllende Werk der Filmemacherin Luise Donschen, läuft keine fünf Minuten, entfaltet aber bereits eine intensive Anziehungskraft. Es geht um die vielgestaltigen Formen der Verführung. Naheliegend, dass am Beginn dieses Films, der Casanova schon im Titel trägt, Venedig steht. Eine Stadt, deren Verführungskraft jedoch längst in konsumierbare Häppchen verpackt ist und an Touristen verkauft wird. Sei es als Wochenende im Karneval oder in Form eines Tagesausflugs als Teil einer Kreuzfahrt. Verführung als Geschäft, Verführung als sexuelle Dienstleistung steht auch für eine Domina im Zentrum. Bevor wir sie sehen, hören wir ihre Stimme, die mit sanftem Timbre ihren Kunden willkommen heißt und dann elegant das Geschäftliche abklärt. Später begleitet die Kamera sie bei ihrer Arbeit. Wir sehen, wie die Domina zunächst ihren Kunden mit ihren Fingern und Handflächen streichelt, ihn entspannt und zur Ruhe kommen lässt – bevor sie ihm erlaubt ihre Schuhe zu küssen und ihre Füße zu lecken. Im sexuellen Spiel von Dominanz und Unterwerfung ist die Verführung der Motor.
Verführt von Gott?
Das im Titel angesprochene Casanova-Gen untersuchten Forscher des Max-Plank-Instituts für Ornithologie an eigentlich monogam lebenden Zebrafinken. Die Finkenmännchen neigen zur Polygamie, „verführen“ neben ihrem eigenen auch andere Weibchen zur Paarung, um ihren Fortpflanzungserfolg zu erhöhen. Allerdings: auch manche Finkenweibchen zeigen das Fremdgehverhalten, was mitunter negative Konsequenzen zufolge hat, denn der eigentliche Partner kann die Pflege der Nachkommen vernachlässigen oder das Weibchen Krankheitserreger anderer Männchen einschleppen. Im Film erläutern die Wissenschaftler ihre These für dieses Verhalten: Finkenweibchen haben das polygame Verhalten von ihren Vätern geerbt haben. Verführung als unnötiger Nebeneffekt der Evolution?
Und wie steht es um die Verführung bei Menschen? Insbesondere bei jenen Menschen, denen qua ihres Amtes Verführung kaum fremder sein könnte, weil sie als Mönch oder Priester körperliche Enthaltsamkeit vor Gott geschworen haben? Ist in ihrem Leben Platz für Verführung? Im „Vater Unser“ heißt es: „...und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“. Verführung wird in diesem Zusammenhang gemeinhin dem Bösen zugerechnet. Doch wieso eigentlich? Luise Donschen folgt einem der „Männer Gottes“. Ihre Kamera beobachtet ihn bei seinen Verrichtungen. Wie er sich ankleidet, Lilien als Dekoration für den Altar schneidet, den Weihrauch entzündet, umsichtig und mit Hingabe bei der Heiligen Messe hantiert. Ist die Verführung nicht eher eine Gabe Gottes? Muss man ihn vielleicht als Verführten betrachten? Ein von Gott zum Glauben und zur Gefolgschaft verführter Mensch? Oder ist er eher Verführer im Namen Gottes, den Leib Christi in der Messe den Gläubigen anbietend?
Es spielt keine Rolle, ob man als Zuschauer nun selbst einem Glauben nachgeht oder nicht. Der Punkt ist, dass CASANOVAGEN seine Zuschauer dazu anstiftet Denkaufgaben wie dieser nachzugehen. In hochkonzentrierten und atmosphärisch äußerst dichten 67 Minuten entsteht ein Ideenkosmos, der zum intensiven inneren Diskurs einlädt. Kino als Denkraum, wortwörtlich. Luise Donschen ist dabei selbst eine Verführerin in vielfacher Hinsicht. Sie verführt ihr Publikum, in dem sie auf geradezu berauschende Weise Formen dokumentarischen und fiktionalen Erzählens in Kommunikation miteinander treten lässt, und dafür mitunter betörende Kinobilder auf 16mm-Film findet. Und sie verführt auch ihre Protagonisten, allen voran den (Casanova-)Darsteller John Malkovich, zum Sinnieren über eben genau das: lust- und freudvolles sich hinreißen lassen zu etwas, dass man allein wohl nicht wagen würde oder könnte. Und sei es nur ein Tanz zu Kate Bushs „Wuthering Heights“. Verführung ist keine Nebensache, sie ist der Schlüssel zu allem. Und CASANOVAGEN einer der Höhepunkte im Forum der Berlinale 2018.
CASANOVAGEN | DE 2018 | dokumentarisch | 67' | Luise Donschen | Forum
(c) Bild: Helena Wittmann |
Ein Wissenschaftler erklärt im Interview das Paarungsverhalten von Finken: das lautstarke Werben des Männchens für das Weibchen, welches Paarungsbereitschaft signalisieren muss. Der Akt, Kloake an Kloake, der kaum zwei Sekunden dauert. Schnitt. Eine Bar, Musik, ein paar junge Leute, sie sitzen wie drapiert herum, betreiben Konversation. Die Musik wird abgedreht. Eine junge Frau liest aus Casanovas Memoiren - seine Gedanken zur weiblichen Lust und sein Nachdenken darüber was Frauen an der Lust finden, trotz des ständigen Risikos schwanger zu werden. Schnitt.
CASANOVAGEN, das erste abendfüllende Werk der Filmemacherin Luise Donschen, läuft keine fünf Minuten, entfaltet aber bereits eine intensive Anziehungskraft. Es geht um die vielgestaltigen Formen der Verführung. Naheliegend, dass am Beginn dieses Films, der Casanova schon im Titel trägt, Venedig steht. Eine Stadt, deren Verführungskraft jedoch längst in konsumierbare Häppchen verpackt ist und an Touristen verkauft wird. Sei es als Wochenende im Karneval oder in Form eines Tagesausflugs als Teil einer Kreuzfahrt. Verführung als Geschäft, Verführung als sexuelle Dienstleistung steht auch für eine Domina im Zentrum. Bevor wir sie sehen, hören wir ihre Stimme, die mit sanftem Timbre ihren Kunden willkommen heißt und dann elegant das Geschäftliche abklärt. Später begleitet die Kamera sie bei ihrer Arbeit. Wir sehen, wie die Domina zunächst ihren Kunden mit ihren Fingern und Handflächen streichelt, ihn entspannt und zur Ruhe kommen lässt – bevor sie ihm erlaubt ihre Schuhe zu küssen und ihre Füße zu lecken. Im sexuellen Spiel von Dominanz und Unterwerfung ist die Verführung der Motor.
Verführt von Gott?
Das im Titel angesprochene Casanova-Gen untersuchten Forscher des Max-Plank-Instituts für Ornithologie an eigentlich monogam lebenden Zebrafinken. Die Finkenmännchen neigen zur Polygamie, „verführen“ neben ihrem eigenen auch andere Weibchen zur Paarung, um ihren Fortpflanzungserfolg zu erhöhen. Allerdings: auch manche Finkenweibchen zeigen das Fremdgehverhalten, was mitunter negative Konsequenzen zufolge hat, denn der eigentliche Partner kann die Pflege der Nachkommen vernachlässigen oder das Weibchen Krankheitserreger anderer Männchen einschleppen. Im Film erläutern die Wissenschaftler ihre These für dieses Verhalten: Finkenweibchen haben das polygame Verhalten von ihren Vätern geerbt haben. Verführung als unnötiger Nebeneffekt der Evolution?
Und wie steht es um die Verführung bei Menschen? Insbesondere bei jenen Menschen, denen qua ihres Amtes Verführung kaum fremder sein könnte, weil sie als Mönch oder Priester körperliche Enthaltsamkeit vor Gott geschworen haben? Ist in ihrem Leben Platz für Verführung? Im „Vater Unser“ heißt es: „...und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“. Verführung wird in diesem Zusammenhang gemeinhin dem Bösen zugerechnet. Doch wieso eigentlich? Luise Donschen folgt einem der „Männer Gottes“. Ihre Kamera beobachtet ihn bei seinen Verrichtungen. Wie er sich ankleidet, Lilien als Dekoration für den Altar schneidet, den Weihrauch entzündet, umsichtig und mit Hingabe bei der Heiligen Messe hantiert. Ist die Verführung nicht eher eine Gabe Gottes? Muss man ihn vielleicht als Verführten betrachten? Ein von Gott zum Glauben und zur Gefolgschaft verführter Mensch? Oder ist er eher Verführer im Namen Gottes, den Leib Christi in der Messe den Gläubigen anbietend?
Es spielt keine Rolle, ob man als Zuschauer nun selbst einem Glauben nachgeht oder nicht. Der Punkt ist, dass CASANOVAGEN seine Zuschauer dazu anstiftet Denkaufgaben wie dieser nachzugehen. In hochkonzentrierten und atmosphärisch äußerst dichten 67 Minuten entsteht ein Ideenkosmos, der zum intensiven inneren Diskurs einlädt. Kino als Denkraum, wortwörtlich. Luise Donschen ist dabei selbst eine Verführerin in vielfacher Hinsicht. Sie verführt ihr Publikum, in dem sie auf geradezu berauschende Weise Formen dokumentarischen und fiktionalen Erzählens in Kommunikation miteinander treten lässt, und dafür mitunter betörende Kinobilder auf 16mm-Film findet. Und sie verführt auch ihre Protagonisten, allen voran den (Casanova-)Darsteller John Malkovich, zum Sinnieren über eben genau das: lust- und freudvolles sich hinreißen lassen zu etwas, dass man allein wohl nicht wagen würde oder könnte. Und sei es nur ein Tanz zu Kate Bushs „Wuthering Heights“. Verführung ist keine Nebensache, sie ist der Schlüssel zu allem. Und CASANOVAGEN einer der Höhepunkte im Forum der Berlinale 2018.
CASANOVAGEN | DE 2018 | dokumentarisch | 67' | Luise Donschen | Forum